Grimme Online Award 2024

Bericht aus der Jury

Von Nora Frerichmann

Das Preisjahr 2024 war thematisch breit gefächert, aber erneut kein Innovations-Jahr. Die Nominierungen zeigen vor allem Bekanntes: Scrollytelling ist bei Online-Formaten weiterhin ein Ding, TikTok hat sich als Ausspielweg auch für preiswürdigen Content etabliert. Podcasts sind sowieso eine eigene – sehr breite – Sparte mit mittlerweile gezielten Auszeichnungen geworden. So konzentrierten sich die Jurydiskussionen weniger auf Format(weiter)entwicklungen oder technologische Sprünge, sondern eher auf kluge Konzepte, übersichtliche und ansprechende visuelle Aufbereitung sowie überzeugende Themenideen und Recherchen.

Dabei konnte die Jury auf kompetente Vorarbeit zurückgreifen: Die Nominierungskommission hatte einen sehr guten Job gemacht und aus den fast 1.000 Einreichungen 27 preiswürdige Formate zusammengestellt, sodass die Jury aus einem vielfältigen Pool schöpfen konnte. Herzlichen Dank dafür!

In den Diskussionen der Jury kristallisierte sich relativ bald heraus, dass sie ihren Fokus bei den Entscheidungen auf „ihre“ Qualitätskriterien legte und nicht auf eine thematische Ausgewogenheit. Dabei wurde immer wieder diskutiert, wie Relevanz, Aufbereitung und Repräsentation gewichtet werden sollen. Nach zwei Tagen intensiver und konstruktiver Diskussion wurden schließlich die acht ausgezeichneten Formate der Kategorien „Information“, „Wissen und Bildung“, „Kultur und Unterhaltung“ sowie der „Spezial“-Preis mit großer Einigkeit bestimmt.

Ein genauerer Blick auf die Preisträger*innen zeigt dabei: Der Schwerpunkt liegt in diesem Jahr deutlich auf historischen Themen (und ihrer Bedeutung in einer Zeit, in der Gesellschaft und Öffentlichkeit zunehmend von Populismus und menschenfeindlichen Tendenzen geprägt werden) – vor allem in den Kategorien „Wissen und Bildung“ sowie „Information“. Auffällig viele Formate setzen sich mit der NS-Diktatur und ihren Auswirkungen vor allem auf jüdisches Leben auseinander und arbeiten verschiedene Aspekte exzellent und mit klug gesetzten Schwerpunkten und Herangehensweisen heraus. Die Förderung für historische Online-Projekte, die unter anderem durch den Bund intensiviert wurde, führt offenbar zu vielen qualitativ herausragenden Formaten.

Berührend und erzählerisch etwa lässt die „Library of Lost Books“ in die Entwicklung der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und ihrer Bibliothek eintauchen. Ein vielschichtiges, lehrreiches Angebot, das zahlreiche Interaktionsmöglichkeiten bietet, allerdings ohne zu überfordern. Es ermöglicht einen leichten und visuell sehr ansprechenden Zugang und ruft Nutzer*innen dazu auf, bei der Suche nach den in der NS-Zeit ge raubten und verschollenen Büchern der Bibliothek mitzuhelfen.

Der Bildatlas „#LastSeen. Bilder der NS-Deportationen“ hingegen schafft es mit seiner sehr reduzierten und archivarischen Darstellung, Interesse zu wecken. Die historischen Fotografien aus 33 Orten in Deutschland zeigen nicht nur deportierte Menschen, sondern teils auch Beamte der „Sicherheitspolizei“ oder Zuschauende und geben der alltäglichen Brutalität der Deportationen durch Kartenfunktion und Detailinformationen eine selten erreichte Unmittelbarkeit. Als Einzelkämpferin stellt Susanne Siegert mit dem TikTok-Kanal „keine.erinnerungskultur“ in verdichteten Beiträgen einen sehr gegenwartsbezogenen Zugang zu den Verbrechen der Nationalsozialisten her. Das Online-Archiv des Satire-Magazins „Het Onderwater-Cabaret“ bietet einen Einblick in die Gedankenwelt und den Humor von Curt Bloch, der vor den Nationalsozialisten geflohen und in den Niederlanden untergetaucht war. Es sind einzigartige und ironische wie erschreckende Dokumente, die in mühevoller Kleinarbeit auf Initiative seiner Familie online zugänglich gemacht und teils vertont wurden.

Aber auch einige journalistische, rechercheintensive Angebote konnten in diesem Jahr überzeugen. Für das Projekt „Europäische Waffen, amerikanische Opfer“ verfolgte der Tagesspiegel in Zusammenarbeit mit dem ZDF Magazin Royale die Wege von bei Mass Shootings in den USA verwendeten Waffen zurück zu Herstellerfirmen in deutschen und österreichischen Kleinstädten. Das Angebot überzeugte mit seiner visuellen Aufbereitung ebenso wie mit der Idee und Umsetzung. Die „Databroker Files“ von netzpolitik.org und dem Bayerischen Rundfunk konnten in der Kategorie Spezial überzeugen, weil hier ein netzspezifisches Thema durch die umfangreiche Analyse eines riesigen Datensatzes anschaulich auf die Ebene einzelner Nutzer*innen heruntergebrochen wurde, während gleichzeitig die Dimension des internationalen Datenhandels für die nationale Sicherheit deutlich wurde.

Es gab viele Beiträge zu relevanten Themen, die umfänglich bearbeitet wurden und Anerkennung verdienen, etwa zur DDR, zu Rechtsextremismus, der Flutkatastrophe 2021 oder Aspekten (post)migrantischer Lebensrealitäten in Deutschland. Der Jury fehlte am Ende aber etwa in der Übersichtlichkeit, in der online-spezifischen Aufbereitung, dem redaktionellen Konzept oder der thematischen Tiefe im Vergleich zu anderen Angeboten ein Quäntchen Exzellenz für eine Auszeichnung.

Die Jury ist froh, dass sie trotz der zwischenzeitlich ungewissen Situation in diesem Jahr über die ausgezeichneten Projekte des Grimme Online Award entscheiden durfte und der Preis nun zum 24. Mal herausragende Leistungen im Bereich der Onlinepublizistik würdigt. Differenzierten Qualitätsangeboten gebührt besonders in Zeiten von populistischem Getöse und simplifizierten Erklärungsmustern Aufmerksamkeit und Anerkennung.