Grimme Online Award 2009

Statement der Nominierungskommission

Das Internet bleibt ein einzigartiges Medium, und die Dynamik des Netzes scheint trotz Medienkrise auch im neunten Jahr des Grimme Online Award ungebrochen. Die Vielfalt der eingereichten Websites und der daraus resultierenden Nominierungen erscheint der Kommission in diesem Jahr besonders groß. Während in den vergangenen Jahren Nutzerbeteiligung und Video-Angebote unter den nominierten Angeboten als konzeptionelle Trends zu erkennen waren, so ist die Auswahl in diesem Jahr überaus heterogen. Nominiert sind Websites im Spannungsfeld von Print und Online, klassischen Blogs, Meta- und Nischenangeboten.

Das Boom-Thema Microblogging ist für den Award in diesem Jahr noch nicht relevant geworden; Twitter-Streams und deren Aggregatoren erscheinen bisher nicht auszeichnungsfähig. Auch zum Thema mobile Webnutzung gab es im Wettbewerb nur wenige Vorschläge, die den Anforderungen des Grimme Online Award entsprachen. Podcasts und andere Audio-Angebote scheinen durch den vermehrten Einsatz von Videos im Netz an Bedeutung zu verlieren. Bewegtbilder sind zum Standard geworden, Weiterentwicklungen und neue Konzepte jedoch rar.

Und doch kann die technische Konvergenz zwischen Fernsehen und Netz den Spielraum für neue Formate schaffen. Das Ablegen von Fernsehinhalten auf kaum gestalteten Standard-Websites reicht für ein attraktives Multimedia-Angebot allerdings nicht aus; neue kreative Wege mit dem Medium Internet umzugehen sind gefragt. Die Multimedia-Reportage "Energie der Zukunft" des WDR sticht aus den eingereichten Angeboten exemplarisch für eine interaktive und attraktive Art der Informations- und Wissensvermittlung an der Schnittstelle von Internet und Fernsehen hervor.

Auch Zeitungen und Magazine suchen noch immer den richtigen Weg ins Netz. Die Wochenzeitung "Der Freitag" wagt seit einigen Monaten ein mutiges crossmediales Experiment. Blog-Beiträge aus der Freitag-Community werden nicht nur auf der Website hervorgehoben, sondern ebenfalls in die gedruckte Ausgabe der Zeitung übernommen. Diese Kombination von Redaktion und Partizipation erscheint trotz notwendiger Diskussionen zukunftsträchtig.

In einem anderen Feld der Nutzerbeteiligung können sich Printprodukte ebenso betätigen: Websites und Portale, in denen gesellschaftliche und persönliche Geschichte dokumentiert wird, liegen insbesondere im Jahr des 60. Jubiläums der Gründung der Bundesrepublik und des 20. Jahrestags des Mauerfalls im Trend. "Von Zeit zu Zeit", das zeitgeschichtliche Portal der Stuttgarter Zeitung, nutzt dabei sowohl lokale Kompetenz im Netz als auch crossmediale Effekte. Ein Angebot, das unter den Webangeboten der Regionalzeitungen in Deutschland eine Sonderstellung einnimmt. "Zwangsarbeit 1939-1945" sammelt die Lebensgeschichten von Zwangsarbeitern in ausführlichen Video- und Tondokumenten und leistet damit einen besonderen Beitrag dazu, die Erinnerung an über zwölf Millionen Menschen, die im nationalsozialistischen Deutschland zur Zwangsarbeit gezwungen wurden, wach zu halten. Die Login-Pflicht der Seite zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zeugt von der besonderen Verantwortung der Betreiber und stand einer Nominierung nicht im Weg.

Herausragende politische Web-Angebote sind auch im Superwahljahr noch selten. Sie werden oft ereignisbezogen kurzfristig konzipiert und sind daher noch nicht in den Wettbewerb eingeflossen. Zudem ist es – trotz oftmals aufwändiger Gestaltung – fraglich, ob ihre sinnvolle Weiterführung gewährleistet ist. Eine Ausnahme ist das "ZDFParlameter". Welcher Abgeordnete hat zu welchem Thema wie abgestimmt? Diese Frage ist dank dieses Webspecials schnell beantwortet – es dokumentiert und visualisiert die Vorgänge im Bundestag und überzeugt durch Gestaltung und Usability.

Zwei der nominierten Websites befassen sich auf unterschiedliche Weise mit dem Volkssport Fußball. "Fussball-Landschaft" dokumentiert in fotojournalistischen Essays die Spielorte abseits der Bundesliga-Arenen in ihrer sympathischen Schlichtheit. Die Betreiber der Video-Plattform "Hartplatzhelden" wollen alle Tore sammeln, die auf den Rasen- und Ascheplätzen der Fußballamateure fallen. Das Portal befindet sich seit Anfang 2008 in einem Rechtsstreit mit dem Württembergischen Fußballverband, einem Landesverband des DFB, der die Übertragungsrechte auch für die unteren Ligen besitzt und der Site daher das Zeigen von Videomitschnitten aus Kreis- und Oberliga untersagt.

Auf eine andere Art befasst sich Jens Weinreich mit Sport. Der investigative Journalist arbeitet eigentlich für die "traditionellen" Medien und schafft sich mit seinem Weblog, in dem er regelmäßig eine Fülle von Hintergründen und weiterführenden Dokumenten veröffentlicht, Unabhängigkeit und Freiraum, der es ihm etwa erlaubt, sich mit Themen wie Doping intensiv auseinander zu setzen. Den Freiraum des Internet nutzt auch die "Mädchenmannschaft". Sieben Autorinnen und ein Autor kommentieren aktuelle Nachrichten aus feministischer Sicht, ganz ohne ideologische Scheuklappen.

Auch 2009 hat das Internet noch immer nicht – wie so oft prophezeit – zur Abschaffung von Buch, Theater und Kino geführt. Im Gegenteil: Das Netz öffnet neue Wege, sich der Kultur anzunähern: "nachtkritik.de" bietet dank engagierter, fachkundiger Autoren einen einzigartigen Überblick über die Theaterszene in Deutschland und schon am Morgen nach einer Premiere ausführliche Kritiken. "Cargo-Film" setzt sich intensiv mit dem Thema Film abseits von Blockbustern auseinander, und "Krimi-Couch.de" ist ein vielseitiges Info-Portal für die Fans von Büchern des spannenden Genres. Ebenfalls im Bereich Kultur und Unterhaltung sind in diesem Jahr gleich zwei Video-Vorlese-Websites nominiert, die trotzdem unterschiedlicher nicht sein könnten: Während auf "zehnSeiten" Autorinnen und Autoren selbst zehn Seiten aus ihren eigenen Werken vorlesen, tragen bei "VolksLesen.tv" Leserinnen und Leser unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen aus ihren Lieblingsbüchern vor.

Der Kultur verpflichtet ist auch das "Digitale Historische Archiv" aus Köln: Nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs und der Beschädigung oder dem Verlust tausender Dokumente versucht man nun im Netz, digitale Kopien von Archiv-Dokumenten zu sammeln. Ein innovativer Weg, mit Hilfe des Internet kollaborativ den Schaden dieses Unglücks zu verringern.

Anspruchsvolle, überzeugende Webangebote für Kinder und Jugendliche bleiben weiterhin Mangelware. "Tom und das Erdbeermarmeladenbrot mit Honig" aus dem SWR-Kindernetz zeigt beispielhaft, wie Kinder altersgerecht im Web angesprochen werden können, und ist zudem ein Musterbeispiel für die erfolgreiche Weiterführung eines im Netz gestarteten Angebots im Fernsehen.

Websites, die sich an Jugendliche richten sollen, scheinen noch immer häufig an der Zielgruppe vorbei konzipiert und betrieben zu werden. Denn Jugendliche wollen im Netz Inhalte, die sie in ihren Lebenswelten und Erfahrungen direkt ansprechen, und zwar auf Augenhöhe. "Du bist nicht allein" gelingt diese Ansprache. Das Portal erleichtert homosexuellen Jugendlichen mit vielfältigen Informationen und einer aktiven Community das Coming Out und das "schwule Leben" und tut dies fern von Szene-Zwängen.

Viele der nominierten Angebote zeigen, dass dank immer einfacherer Technik Einzelpersonen oder Vereine auch ohne großes Budget publizistische Projekte im Internet verwirklichen können. Aber Technik allein reicht nicht, eine animierte Foto-Galerie macht eine Website noch lange nicht zu einem attraktiven Multimedia-Angebot, das Zusammenklauben von fremden Ideen kein innovatives Konzept. Kreativität und Mut sind notwendig, wenn man die sich entwickelnden Möglichkeiten dieses Mediums auch qualitativ überzeugend gestalten möchte.