Im Jahr 2012 werden Themen im Internet einmal mehr anders erzählt, anders präsentiert, die Leserschaft wird anders beteiligt – und das nicht nur im Vergleich mit analogen Medien, sondern auch im Vergleich mit den digitalen Medien der Vorjahre. Beim Blick auf die diesjährigen Nominierten des Grimme Online Award kristallisiert sich eine neue Strömung heraus, die verstärkt einen Protagonisten in den Mittelpunkt stellt: den Menschen.
Menschen in ihrer Vielstimmigkeit zu Wort kommen zu lassen, war schon immer das Anliegen des Journalismus. Im Digitalen kann die Zahl der Stimmen vergrößert werden. Der Jury sind vor allem solche Angebote aufgefallen, in denen die Vielfalt professionell gestaltet ist. Anders als im „User Generated Content“ wird es nicht dem Zufall überlassen, wer sich selbst darstellt und wie dies geschieht. Die vielen Protagonisten, die zu einem Thema etwas zu erzählen haben, bekommen dank neuer Darstellungsformen im Web ein Gesicht und ihren Platz. Verbesserte Formen der Visualisierung lassen Gezeigtes und Gesagtes authentischer wirken – etwa wenn Schauplätze wie in den „Memory Loops“ auf einer Münchener Karte verortet sind und den Opfern des Nationalsozialismus ein gar nicht stummes Mahnmal setzen: Alltagserzählungen, die eine Gänsehaut erzeugen und kaum jemanden kalt lassen.
Was da noch alles brach liegt! Die Dimensionen Zeit und Raum sind auch sieben Jahre nach der Erfindung von Google Maps noch erschließbares, überraschendes Terrain. Das geschieht beispielsweise wenn, wie in den „berlinfolgen“, ein neues Format entsteht, für das es noch keinen eingeführten Namen gibt. Nennen wir es als Weiterentwicklung der Audioslideshow „nachvertonte Webvideofotoschau“? Dieses Format jedenfalls hat allein schon Qualität, doch tritt sie hinter den porträtierten Menschen bestmöglich zurück. Die „berlinfolgen“ zeigen Menschen und ihre Geschichte, die Text, Bild, Video und Tonaufnahme zu einer neuen Ausdrucksform zusammenfassen – und gleichzeitig einen beachtenswerten Startschuss setzt für die jeweils nächste Folge.
Journalismus dieser Art ist aufwändig, er erfordert Finanzierung. Verknüpft ist das Angebot daher stark mit Crowdsourcing-Mechanismen, die ihre Nutzbarkeit in Deutschland erst noch unter Beweis stellen müssen. Dass Nutzer dieses Angebots die nächste Folge mitfinanzieren, ist nicht ausgemacht. Doch versucht es hier endlich mal jemand.
Und wenn sie es an anderer Stelle im Web schon nicht mitfinanzieren, so ist doch das Mitmachen bei einer guten Sache weiter ein Treiber im Netz – und die Wikipedia-Idee, die 2005 mit einem Grimme Online Award sowie dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, steigerungsfähig: In der „Lobbypedia“ werden öffentlich zugängliche Informationen gesammelt, die die Verknüpfungen zwischen Politik und Wirtschaft transparent machen. Basierend auf dem Netzwerkgedanken, der dem Internet so stark innewohnt, findet sich hier eine sorgfältige, wenn auch nicht vollständige Zusammenstellung des Lobbyismus in Deutschland. Dabei geht es ohne Pranger: Nüchterne Darstellung und Teilnahmeregeln, die Sorgfalt und Transparenz verlangen, sind für ein Wiki über das brisante Geflecht aus Geld und Macht und Politik elementar – und auch dann umsetzbar, wenn sich viele daran beteiligen.
Wo Tweets und Facebookbeiträge in Sekundenschnelle eine Nachricht von einem entfernten Teil des Erdballs ebenso wie von einem umgeworfenen Blumenkübel in Neuenkirchen auf den Schirm befördern, verstärkt sich ein besonderes Interesse an den Menschen dahinter, die aus diesen großen und kleinen Nachrichten besondere Nachrichten in der persönlichen Timeline machen. Das sind die Geschichten der Menschen hinter den 140 Zeichen eines Tweets.
Und siehe da: Das lässt sich durchaus in „140 Sekunden“ langen Webvideos erzählen. Auch das ist ein neues Format, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht, die Technik in den Hintergrund rückt; dorthin, wo sie hingehört.
Das gelingt nicht nur mit den Protagonisten der Netzszene, sondern auch mit den Bewohnern entfernter Gegenden. Ein bloßes Video über den Umgang der Einwohner Amazoniens mit der Klimaveränderung ist interessant genug, wenn es gut recherchiert, gefilmt und geschnitten ist. Im Web aber gelten weitere Mechanismen, um die Spannung zu halten. Ein solch großes Thema webgerecht zu strukturieren, ist eine besondere Herausforderung, das liebevolle Design mit dem Blick fürs Detail dann mehr als nur Kür – dem Angebot „Amazonien – die Seele der Indios“ gelingt dies vorbildlich.
So etwas ist auch mit Online classic möglich. Ein bodenständiges klares Design tritt hinter den Möglichkeiten moderner Präsentationstechnik zurück, wenn jemand etwas zu erzählen hat. Besonders deutlich wird dies bei einem starken Thema, wie in dem Blog „Zukunft Mobilität“. Hängen doch daran sehr viel weiterführende Problematiken wie der Klimawandel und technischer Fortschritt. Das mit einer kleinen Redaktionsmannschaft bis hin zum Ein-Mann-Betrieb qualitativ hochwertig zu betreiben, ist aller Ehren wert. Migration ist dabei ein ähnlich starkes Thema, das von vielen Facetten geprägt ist – und bei ausführlicher und durchdachter Gestaltung neue Erkenntnisse bringt. „MiGAZIN“ gehört nicht nur wegen der kleinen redaktionellen Ausstattung dahinter gefördert. So wie auch beim ausgezeichneten „MusikTraining“ ein Einzelner die Mittel des Internets erkannt hat und nutzt. Die Musik, vielleicht die universellste Sprache der Menschen, gewinnt hier neue Qualität. Das Genre der Videorezension eines Musiktitels ist neu.
Erstmals konnten Apps beim Grimme Online Award eingereicht werden. Mehr und mehr erkunden Programmierer, Journalisten, Designer und genreübergreifende Startups aus noch ganz anderen Berufsgruppen die faszinierenden Möglichkeiten von Smartphones und Tablet-Computern. Die Aufgabe könnte komplexer nicht sein: Zu der herkömmlichen zweidimensionalen Darstellungsfläche eines Bildschirms kommen auf Smartphones und Tablets Navigationsbesonderheiten, für die sich erst allmählich Standards herausbilden. Es ergeben sich neue Anforderungen an die Gestaltung eines publizistischen Angebots. Nicht alles, was mit den Geräten möglich ist, ist auch sinnvoll bei der Informationsvermittlung. Das fängt bei der Ladezeit einer einzelnen Publikation an und hört bei der Weiterentwicklung und Ausnutzung der technischen Basis gegenüber einer herkömmlichen Website nicht auf.
Die beachtenswertesten Erzeugnisse aus dem jungen Genre der journalistischen Apps schafften es schon in diesem Jahr in die Endrunde, wurden aber vom vorliegenden Spektrum der Preisträger hinsichtlich ihrer Bedienbarkeit und Ausnutzung des Mediums überboten. Wo App und Web auf einer neuen technischen Basis miteinander konkurrieren, hat das Web im Jahr 2012 weiterhin die Nase vorn.
Der Mensch aber bleibt im Mittelpunkt – hoffentlich.