Online und offline, real und virtuell – diese Unterscheidungen verlieren zunehmend an Trennschärfe und Bedeutung: Virtuelles ist real und Reales virtuell. Dies wird beim Grimme Online Award 2012 besonders deutlich. Die 25 nominierten Angebote ragen wegen ihrer hohen publizistischen Qualität aus den rund 1.900 Einreichungen hervor – und sie erreichen dies mit ganz unterschiedlichen Mitteln. Ihre Auswahl war daher auch alles andere als leicht, zumal trotz des leichten Rückgangs der absoluten Bewerberzahlen die Zahl der qualitativ hochwertigen Einreichungen gestiegen ist. Das Web präsentiert sich mobil, optisch bewegt, persönlich, diskursiv, inhaltlich gehaltvoll.
Erstmalig konnten Apps für den Grimme Online Award eingereicht werden, unter ihnen überzeugen besonders die der Tagesschau und der Frankfurter Rundschau. Die Tagesschau versteht es, mit ihrer App bestehende Inhalte hervorragend für die Nutzung unterwegs aufzubereiten. So können die Nachrichten eine mobile Generation erreichen, die nicht mehr pünktlich um 20:00 Uhr vor dem Fernseher sitzt. Die App der Frankfurter Rundschau ist nicht nur vorbildlich in Bezug auf die Nutzerführung und Präsentation der Inhalte, sondern bietet auch regelmäßig hochwertige Themenspecials. Beispielhaft dafür ist die Hommage an den englischen Schriftsteller Charles Dickens in der Ausgabe vom 07.02.2012. Insgesamt steckt die Gattung Apps im Bereich der publizistischen Angebote jedoch noch in den Kinderschuhen, denn oft stehen sie nur für eins der großen Betriebssysteme zur Verfügung, und die Verknüpfung mit sinnvollen ortsspezifischen Anwendungen ist eher die Ausnahme.
Auffallend viele Angebote wurden in diesem Jahr vorgeschlagen, die im Sinne einer erweiterten Realität Netzwelt und öffentlichen Raum verbinden. Objekte und Gebäude, für die Zusatzinformationen digital bereitgestellt werden, verändern die Sinneswahrnehmung des Menschen. Die Netzwelt und der Ort, an dem wir uns befinden, verschmelzen. Angebote wie "Memory Loops", ein Audio-Mahnmal im Netz, oder "RADIOORTUNG" zeigen dies. Letzteres beinhaltet Hörspiele, die über Landkarten auf der Website oder vor Ort mit dem Smartphone nachverfolgt werden können.
Auch 2012 gibt es vorbildliche Angebote der Datenvisualisierung. Einige teilweise bereits in den vergangenen Jahren entwickelte Ansätze wurden weiter verfolgt und verbessert, sei es der serviceorientierte "Zugmonitor" der Süddeutschen Zeitung oder das aufschlussreiche "Parteispenden-Watch" der taz. Wichtig ist, dass bei den nominierten Websites die Daten nie für sich stehen, sondern immer durch begleitende Texte eingeordnet werden.
Insgesamt belegen die eingereichten Angebote, dass eine gelungene Kombination von künstlerischen Aspekten und Publizistik möglich ist. Dies zeigt etwa die crossmediale Aufbereitung der Doku "360 Grad Zürich Langstrasse" des Schweizer Fernsehens. Auch ARTE hat eine große Zahl an Webdokumentationen veröffentlicht, die durchweg aufwändig und ansprechend gestaltet sind, ohne dabei inhaltliche Tiefe vermissen zu lassen. Der Kultursender konnte die Nominierungskommission besonders mit dem Special "Amazonien – die Seele der Indios" und der Hip-Hop-Webdoku "New York Minute" überzeugen. Die Kommission hätte sich aber gewünscht, dass solch hochwertige Specials nicht wie ein in sich geschlossener Raum im Netz stehen, dessen Tür nur schwer zu finden ist. Zu einem publizistisch hochwertigen Angebot gehört nicht nur die tadellose Umsetzung, sondern auch die Vernetzung und Kommunikation mit der Zielgruppe. Und auch bei anderen außergewöhnlichen Angeboten gibt es Mängel: So hat die Nominierungskommission während der Sichtung festgestellt, dass viele Webseiten sich ihren neuen Besuchern zu schlecht erklären. Was ist die Idee hinter der Präsenz? Wer betreibt sie?
Ungewöhnlich viele Portrait- und Interviewprojekte sind 2012 von der Nominierungskommission begutachtet worden. Das Projekt "140 Sekunden" zeigt, wie viel in 140 Zeichen stecken kann. Es werden die Köpfe und Geschichten hinter einzelnen Tweets gezeigt. Auch die Audio-Slideshow-Portraits der "berlinfolgen" sind so eigenwillig produziert und charmant erzählt, dass sie einen Platz unter den Nominierten gefunden haben, obwohl das New Yorker Vorbild deutlich erkennbar ist.
Viele herausragende Web-Präsenzen leben von der Persönlichkeit ihrer Autoren. Es überrascht wohl kaum, dass an dieser Stelle Sascha Lobo erwähnt wird. Insbesondere in seiner Kolumne "Die Mensch-Maschine" veröffentlicht er Woche für Woche hochwertige Debattenbeiträge, die digitale Phänomene auch Menschen näher bringen, die sich nur zögerlich auf das Netz einlassen.
Auch wenn die Zahl der Einreichungen von öffentlich-rechtlichen Sendern merklich nachgelassen hat – was politische oder wirtschaftliche Gründe haben mag – schaffen auch sie immer wieder innovative Angebote. Der Twitter-Account "@ZDFreporter" hebt sich von anderen TV-Angeboten in diesem Kurznachrichtendienst ab, da die Reporter ihn beispielhaft nutzen, um Ereignisse persönlich zu begleiten und per Twitter in Echtzeit darüber berichten, noch bevor die Reportage zu einer Sendung verarbeitet und ausgestrahlt wird.
Unter den Nominierten finden sich viele Einzelkämpfer als gute Beispiele für Professionalisierung. Die Magazinjournalistin Meike Winnemuth zeigt mit dem Reiselogbuch "Vor mir die Welt" nicht zum ersten Mal, dass sie die Vorzüge des Netzes geschickt einsetzt, um nhalte mit persönlichem Zugang zu veröffentlichen. Der Musiker Klaus Kauker vermittelt in seinem YouTube-Kanal mit jedem Video unterhaltsam und trotzdem auf hohem Niveau Musikbildung und Aufklärung über die Entstehung von Songs. Seit Jahren stecken die Designprofis von "Design made in Germany" viel Zeit und Arbeit in ihre Website. Mittlerweile hat sich das viel kommentierte Angebot als feste Größe in der deutschen Designszene etabliert. Spieltag für Spieltag liefern die Autoren von "Spielverlagerung.de" hohes und persönliches Engagement ab. Mit großer Liebe zur Taktik werden die Spielzüge nach aktuellen Fußballspielen nachgezeichnet und analysiert. Beeindruckend auch der Verkehrswirtschaftsstudent Martin Randelhoff mit seinem umfassenden Magazin "Zukunft Mobilität", das facettenreich und auf hohem Niveau dieses gesellschaftlich wichtige Thema aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet.
Sehr intensiv hat die Nominierungskommission über die Grenzen zwischen Service-Plattformen und Publizistik debattiert. So gab es eindrucksvolle Websites, deren Umsetzung und Ziele eindeutig preiswürdig sind, die jedoch weniger als publizistisches Angebot, sondern vielmehr als eine Art Hilfsinstrument betrachtet werden müssen. Zwei Angebote sollen deshalb lobend hervorgehoben werden. Auf "wheelmap.org" werden rollstuhlgerechte Orte gefunden und bewertet. Die Crowdfunding-Plattform "startnext.de" ermöglicht es, kreative, aber auch publizistische Formate zu finanzieren. So können hochwertige Webprojekte entstehen – die dann vielleicht zukünftig zu den Nominierten des Grimme Online Award gehören.