Ist es schwieriger geworden, das Gute im Netz zu finden? Früher war das Internet übersichtlicher, die Aufsteiger eines Jahres ließen sich leichter erkennen. Das Netz ist vielfältiger geworden. Die Idee einer einheitlichen, von einer Netzavantgarde getragenen Internetkultur gehört der Vergangenheit an.
Vielmehr geht es jetzt darum, für unterschiedliche Anliegen und Adressaten in der gesamten Gesellschaft die richtige Ansprache und Ausdrucksform zu fi nden. Entsprechend groß ist die Bandbreite der Preisträger des Jahres 2011. Damit will die Jury den Entwicklungen und Erscheinungsweisen des Internet gerecht werden, die sich noch weniger als in früheren Jahren auf einen Nenner bringen lassen. Erneut beweist sich das Internet als lebendiges Medium, in dem es keinen Stillstand gibt, sondern fortlaufend neue Lösungen gesucht und gefunden werden.
Viele der ausgezeichneten Angebote stehen stellvertretend für Trends im Netz – für längerfristige Entwicklungen oder auch aktuelle Durchbrüche: Das „law blog” von Udo Vetter ist über Jahre zu einer festen Institution in juristischen Fragen gereift und steht damit exemplarisch für hochwertige Fachblogs.
Dagegen hat das „GuttenPlag Wiki” nach seinem Start schon in kurzer Zeit demonstrieren können, wie die Prüfung wissenschaftlicher Arbeiten auf plagiierte Textstellen von einer Vielzahl von ehrenamtlichen Mitarbeitern kollaborativ bewältigt werden kann. Schneller als jede Redaktion oder Universitätskommission konnten die Mitarbeiter ein Ergebnis vorlegen, dessen Transparenz und Evidenz auch das politische Geschehen beeinfl usst hat. Das Prinzip hat inzwischen Nachahmer gefunden und dürfte die Hemmschwelle für Plagiate erhöht haben.
Mit dem „GuttenPlag Wiki” ist die Anwendungsreife einer Idee unter Beweis gestellt worden, die schon länger kursierte. Gleiches gilt für die Auswertung und Visualisierung von Datenspuren, mit der „ZEIT ONLINE” die – im Wesentlichen abstrakt geführte – Debatte über die Vorratsdatenspeicherung veranschaulicht. Der Datenjournalismus fasst mit solchen Projekten auch in Deutschland Fuß.
Für den Reifeprozess des Internet spricht die Beobachtung, dass nicht mehr das bloße Probieren, das Spielerische und Selbstzweckhafte im Vordergrund steht. Auch sind es nicht mehr vornehmlich Freizeit- Unterhaltungsthemen wie Musik, Kino, Spiele und Mode, die innovativ im Netz umgesetzt werden. Das Internet hat an Ernsthaftigkeit und damit auch an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen.
Dass „schwere” Themen im Internet so aufbereitet werden können, dass das Interesse der User geweckt wird und sie in ein Thema hineingezogen werden, belegt „Prison Valley” von ARTE. Die Darstellung der Privatisierung von Gefängnissen in den USA und der dort herrschenden Haftbedingungen werden eindrucksvoll mit der Palette der erzählerischen und informierenden Möglichkeiten des Internet umgesetzt.
In einem Medium, dem gerne vorgeworfen wird, zum Sprachverfall beizutragen, ist das „Neusprechblog” bemerkenswert: Das Blog regt zu einem sensibleren Umgang mit Sprache und zum Verzicht auf politische Kunstwörter an, die eher beschönigen oder verdecken sollen als klar zu informieren. Für den schrittweisen Aufbau eines aktuellen Wörterbuchs erweist sich gerade das Internet als geeignetes Medium.
Im Unterschied zum Vorjahr sind es diesmal wohl auch mangels runder Jahrestage weniger Wissensprojekte zu historischen Themen, die hervorstechen, sondern journalistische Anwendungen und aktuelle Themen. Dazu lassen sich „Prison Valley”, „Verräterisches Handy: Was Vorratsdaten über uns verraten”, das „GuttenPlag Wiki” und „DRadio Wissen” zählen.
Websites von Presse und Rundfunk sind 2011 unter den ausgezeichneten Angeboten in der Minderheit. Es waren nicht vornehmlich die Redaktionen der alten Medien, die dem Internet innovative Impulse verliehen und seine Qualität defi niert haben, sondern Angebote, die ihren Ursprung im Internet selbst besitzen. Auch dies spricht für die Vitalität des Mediums, wirft aber auch die Frage auf, wie die Zukunft von Presse und Rundfunk aussehen wird, wenn sie im Internet nicht zu den Pionieren zählen, sondern Gefahr laufen, den Anschluss zu verlieren. Auch der Vorsprung der Rundfunkanstalten bei multimedialen Angeboten schmilzt dahin, da Amateure mit niedrigem Budget mittlerweile in der Lage sind, auch hier Bemerkenswertes zu leisten.
Dass Größe und Geld für Qualität im Internet nicht entscheidend sind, lässt sich auch in diesem Jahr wieder belegen: Das „law blog”, die „wortwuselwelt”, die „Reisedepesche” und das „Neusprechblog” sind Angebote, die von wenigen oder sogar einzelnen Personen betrieben werden. Was technisch mittlerweile möglich ist, zeigt eindrucksvoll Johannes Klaus, der alleine durch die Welt reist und in seinem Blog „Reisedepesche” auch von Abgelegenen Orten multimedial berichtet und sich mit seinen Lesern austauscht. Auch die „wortwuselwelt” ist ein Zwei-Frau-Projekt von Brigitte Krämer und Nina Pagalies. Ihre Spiele und Gedichte, zusammengesetzt aus Bildern, Tönen und Wörtern, lassen sich intuitiv verstehen und fesseln nicht nur Kinder, sondern auch ihre Eltern.
Manches, was die Jury neben den ausgezeichneten Angeboten diskutiert hat, überzeugte durch seinen Kerngedanken, dessen Umsetzung aber noch am Anfang steht. So bewertet der „medien-doktor” seit November 2010 medizinjournalistische Beiträge systematisch mit Hilfe einer Liste von Qualitätskriterien. Dieses einheitliche Bewertungsraster und ein Gutachter-Pool, dem viele erfahrene Journalisten angehören, unterscheiden den „mediendoktor” von der sonst üblichen Medienkritik. Oft schafft auch die Weiterentwicklung der medialen Technik neue publizistische Möglichkeiten.
Im Fall der Mobilkommunikation hat sich ein solches Potenzial in diesem Jahr allerdings noch nicht klar abgezeichnet. Es bleibt abzuwarten, welche Formate und Inhalte sich hier entwickeln werden.