Grimme Online Award 2011

Statement der Nominierungskommission

Die fast 2.100 für den 11. Grimme Online Award vorgeschlagenen Websites veranschaulichen in ihrer Gesamtheit die faszinierende Vielschichtigkeit des deutschsprachigen Internet. Aus dieser Fülle hat die Nominierungskommission 25 herausragende Webangebote zur Nominierung ausgewählt.

Zwei Angebote, die in der Kategorie Spezial nominiert werden, nutzen die spezifischen Möglichkeiten des immer noch frischen Mediums besonders gut aus. Mit dem "GuttenPlag Wiki" nominiert die Kommission ein kollaboratives Netzprojekt, dessen Teilnehmer mit sorgfältiger Kleinarbeit in kürzester Zeit nachweisen konnten, in welchem Umfang Karl Theodor zu Guttenberg in seiner Doktorarbeit plagiiert hatte. Ihre Leistung führte letztendlich nicht nur zum Rücktritt des Ministers, sondern fachte eine gesellschaftliche Diskussion über Ethik, Moral und Verantwortung an. Auch das Online-Dossier "Was Vorratsdaten über uns verraten" von ZEIT ONLINE will die gesellschaftliche Diskussion in Gang bringen. Der Grünen-Politiker Malte Spitz stellte dafür über ihn gesammelte Vorratsdaten zur Verfügung, die er erst durch eine Klage gegen die Deutsche Telekom erhalten hatte. Der Textbeitrag wird von einer exzellent animierten Grafik ergänzt, die aus Spitz’ Vorratsdaten ein Bewegungsprofil erstellt und so das abstrakte Thema "Vorratsspeicherung" gekonnt veranschaulicht.
Opulente, im Aufbau aber lineare Flashprogrammierungen hatten in diesem Jahr in der Nominierung keine Chance gegen tatsächlich interaktive Angebote, die den passiven Nutzer zum aktiven Teilnehmer machen und so im Idealfall eine besondere Nähe zum Thema schaffen. Gleich drei nominierte Angebote, die beispielhaft für diese positive Entwicklung stehen, kommen von ARTE: "Prison Valley" ist eine bildstarke, dramaturgisch fesselnde und in der Benutzerführung durchdachte Dokumentation über eine Stadt im US-Bundesstaat Colorado, deren primärer Wirtschaftsfaktor die Strafvollzugsindustrie ist; "Afrika – 50 Jahre Unabhängigkeit" zeigt mit aussagekräftigen Videobeiträgen über das Alltagsleben faszinierender Protagonisten die unterschiedlichen Lebenswelten jenes Kontinents auf. Auch die musikalische Reportagereise "Tonspur" basiert auf gelungenen Videos und der Nähe zu den besuchten Musikschaffenden. 

Gleich mehrere nominierte Angebote spiegeln den Blick deutschsprachiger Autoren auf die Welt. Mit seiner "Reisedepesche" veröffentlicht der Fotograf und Webdesigner Johannes Klaus ein ungewöhnliches Reisetagebuch, das über private Beobachtung und Protokollierung der besuchten Orte hinausgeht. "Die WM – Ein Wintermärchen?" ist ein Projekt der beiden freien Journalisten Christian Frey und Kai Schächtele, die sechs Wochen lang Südafrika bereisten und in Audiogalerien Menschen abseits ausgetretener journalistischer Pfade zu Wort kommen lassen.

Mit "This is South Africa" empfiehlt sich nach "Little Berlin" (2010) auch in diesem Jahr die Axel Springer Akademie als Labor für journalistische Innovationen; ihre Journalistenschüler zeigen sich besonders experimentierfreudig. Das ebenfalls zur Fußball-WM in Südafrika aufgesetzte Portal entstand von Deutschland aus, ausschließlich mit Hilfe sozialer Netzwerke, und überzeugt mit ungewöhnlichen journalistischen Perspektiven. Das Angebot zeigt beispielhaft, dass ein zukunftsweisender Journalismus im Netz nicht nur aus der Produktion eigener guter Inhalte besteht, sondern auch dem ordnenden Filtern fremder Inhalte eine wichtige Rolle zukommt. Diese Aggregation findet sich auch bei “LesMads”: Das seit 2007 betriebene Mode-Blog mit Vorreiter-Funktion im deutschsprachigen Raum ist im vergangenen Jahr zu einem Netzwerk angewachsen. Auf " iGNANT" aggregiert Clemens Poloczek zugänglich und besonders attraktiv dargestellt zeitgenössische (Foto-)Kunst und aktuelles Design.
Bei einigen vorgeschlagenen Websites, die schon seit einigen Jahren bestehen, stand die Kommission vor der Frage: Wenn eine Nominierung, warum dann gerade jetzt? Beim Fotoportal "KWERFELDEIN", dem juristischen "law blog" und dem multimedialen Medienpodcast "Was mit Medien" fiel die Antwort darauf letztlich nicht schwer: Diese Angebote liefern konstante publizistische Qualität und weisen nunmehr eine Reife auf, die sie in ihren Themengebieten herausragend machen.
Eine ausdrückliche Ermunterung, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen verknüpft die Kommission mit der Nominierung des noch jungen Portals "medien-doktor", das die Qualität medizinischer Berichterstattung in den Medien bewertet und so eine publizistische Lücke füllt. Ähnliches gilt für “Augen geradeaus!”, dem Blog von Thomas Wiegold über Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, in dem er fachkundig und meinungsstark Berichterstattung betreibt, die der veränderten Bedeutung der Bundeswehr in unserer Gesellschaft gerecht wird. Im "Neusprechblog" werden etablierte Begriffe als Worthülsen entlarvt – mit dem Ziel, den Blick des Lesers auf unsere Sprache zu schärfen. Den Blick des Lesers schärfen will auch die junge Journalistin Kübra Gümüsay, die in ihrem Blog "ein fremdwörterbuch" eigenwillig und einfühlsam die gesellschaftlichen und kulturellen Facetten des multikulturellen Deutschlands beschreibt.

Auf ein multikulturelles Miteinander bereitet auch eines der nominierten Kinderangebote vor: "JoNaLu" zeigt den Jüngsten spielerisch Begegnungen mit anderen Kulturen und fördert so auch die Sprachkompetenz. Mit Gedichten, Silben, Geräuschen oder Formen arbeitet die "wortwuselwelt" und regt Grundschulkinder durch ihre ungewöhnliche Gestaltung zum kreativen Mitmachen an.  

Kontrovers diskutierte die Nominierungskommission "GameOne.de", ein Portal zur gleichnamigen Sendung des Fernsehsenders MTV. Auf "GameOne.de" wird auf Augenhöhe mit den Nutzern über Konsolen- und Computerspiele berichtet; die Nutzer werden vorbildlich beteiligt und gestalten das Portal eifrig mit. Auch wenn das Angebot sein Thema noch stärker analytisch aufbereiten und kritischer reflektieren könnte, kommt der Seite schon jetzt eine Brückenfunktion zu: Sie demonstriert, dass das Bild des weltfremden jugendlichen “Ballerspielers” meist nicht der Realität entspricht und kann das Gaming so vielleicht auch Kritikern dieser Jugendkultur verständlicher machen.
Die Nominierten zum Grimme Online Award 2011 zeigen, wie unterschiedlich publizistische Qualität im Netz aussehen kann. Noch immer kann ein herausragendes Webangebot von einer kreativen Einzelperson im Blogformat betrieben werden; durch Kollaboration in Wikis können Nutzer Daten sammeln und verbreiten. Zugleich ist es begrüßenswert, wenn Medienhäuser online Experimente wagen, die technischen Möglichkeiten des Mediums ausschöpfen und neue Wege der Informationsvermittlung gehen. Genau diese Vielseitigkeit macht die Faszination des Internets aus: Es ist nicht nur Informations- sondern auch Integrations- und Kommunikationsmedium, das mittlerweile fest in unserer Gesellschaft verankert ist, dessen Rolle aber weiterhin ausgelotet und gestaltet werden muss.