Das war ein in der 15-jährigen Geschichte des Grimme Online Award ungewöhnlich guter Nominierten-Jahrgang mit zahlreichen Beiträgen von exzellenter Qualität, die ganz eng beieinander lagen und der Jury die Auswahl besonders schwer gemacht haben. Das ist auf eine ganze Reihe von Entwicklungen zurück zu führen, die sich mal perfekt ergänzen, mal parallel verlaufen.
Augenfällig ist die Vielzahl von Storytelling-Angeboten, denen die Verbreitung der nötigen Produktions-Infrastruktur in Agenturen und Medienhäusern inzwischen eine hohe technische und optische Qualität verleiht – und den Autoren damit die Chance bietet, die Publikationsmöglichkeiten auszureizen und sich noch mehr auf Inhalte und neue Erzählformen zu konzentrieren. Bei ihrer Auswahl hat sich die Jury deshalb auf diese beiden Aspekte konzentriert.
Einige Produzenten trieben es mit den Scroll-Formaten nach Ansicht der Jury zwar ein bisschen zu weit, aber ein Ermüdungseffekt tritt längst noch nicht ein – dagegen wirken viele neue Features, die sich in diesem Jahrgang sehr gut bewährt haben. Dazu gehört der fast schon natürliche Einsatz von Game-Elementen als etablierter Zugang für große Themen, die das Publikum zum Mitwirkenden machen – hier sei exemplarisch auf das Mammutwerk "Refugees – 4 Monate, 4 Camps" verwiesen. Vom überraschenden Extra zum bewährten Erzähl- und Erklärinstrument haben sich auch Elemente des Datenjournalismus entwickelt, die nicht mehr allein stehen, sondern aufregend neu in die Geschichten eingebunden werden und zum Teil die Handlung tragen, wie bei der Geschichte über Berlins Buslinie M29. Die Jury hebt hervor, dass die Graphic Novel als Stil- und Erzählelement ein hohes dramaturgisches und ästhetisches Niveau erreicht hat, etwa in der bewegend persönlichen Mord-Recherche "Mein Vater, ein Werwolf".
All diese Elemente wirken nicht wie erstaunliche Extras, sondern fügen sich ganz natürlich in den Erzählfluss ein, häufig genial illustrierend; sie setzen Akzente, erweitern die Palette der Interaktions- und Navigationsmöglichkeiten, verstärken Emotionen, modellieren und interpretieren komplexe Zusammenhänge überzeugend verständlich.
Die Professionalisierung und Fortentwicklung der visuellen Elemente wird zunehmend eingesetzt, um Geschichten emotional aufzuladen – das dürfte einer der Gründe sein, dass die Kategorie Kultur und Unterhaltung in diesem Jahr ungewöhnlich viele Auszeichnungen einheimst, während in "Spezial" trotz hochkarätiger und durchaus preiswürdiger Nominierungen kein Award vergeben wird.
Dass Storytelling heute auf ganz hohem Niveau stattfindet, führt zur Freude der Juroren allerdings nicht dazu, dass andere Formate verkümmern. Im Gegenteil. Die Jury würdigt "Mamour, mon amour" als ungewöhnliches, künstlerisches Experiment; seine konsequente Gestaltung dreht das Scrollytelling-Rad wieder eine Nuance weiter und setzte sich gegen andere ganz persönliche, intime Angebote wie "Shore, Stein, Papier" oder "Onkel Willi" durch. Ebenso unbändige Experimentierfreude findet sich im preisgekrönten YouTube-Inkubator "Hyperbole TV", der zeitgemäß politische und kulturelle Themen vermittelt und so auch eine mögliche Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erforscht. Die Jury fordert lautstark: mehr davon!
Neue Standards ausreizen, neue Features umarmen, experimentieren – die Welt des Online-Publizierens wäre dennoch arm ohne die Rückbesinnung auf Bewährtes wie Newsletter oder klassische Websites, wenn daraus kreativ maßgeschneiderte Angebote entwickelt werden – wie "Checkpoint", ein erfolgreicher Versuch über das neue Lokale im Digitalen.
Neben den großen, breiten Entwicklungstrends begleitet uns dauerhaft die Entdeckung der Nische als innovatives Biotop voller Leben. Neben Journalisten und Unterhaltern erobern Pädagogik, Wissenschaft und Didaktik die Möglichkeiten des Internets, vertiefen und verlängern ihre Wirkung räumlich und zeitlich und präsentieren so unterschiedliche Ergebnisse wie das für die Begleitung von Museumsausstellungen wegweisende Digitorial "Monet und die Geburt des Impressionismus", das die Jury mit einem Preis bedenkt, oder die nominierte "MausApp".
Auch weil der technische Aufwand geringer geworden, die für beeindruckende Formate und Features nötige Infrastruktur weit verbreitet ist, rücken Inhalte noch stärker in den Vordergrund. Die Jury würdigt herausragende Texte, beeindruckende Fotos und Filme – an der Spitze die Sogwirkung der 360-Grad-Videos von "Polar Sea 360°", die relevante Inhalte mit persönlichem Erlebnis verbinden. Es ist erfreulich, dass in einer Zeit, in der Live-Ticker und Buzzfeed als journalistische Angebote durchgehen, noch hartnäckige, aufwändige Recherche zu finden ist, vorbildlich dargeboten in der Suche nach der Wahrheit um Flug "MH17“. Und dass Journalisten die Möglichkeiten nutzen, um innovative Formate zu entwickeln wie die Langzeit-Reportage über ein Aufnahmelager für Flüchtlinge, fast in Echtzeit, oder dass sie Communities aufbauen und leiten, um Inhalte Bottom-up zu generieren – bis hin zur maßgeschneidert-vollständigen, rotzig- frischen sublokalen Plattform von Neuköllnern für Neuköllner. Wie eben diese Plattform, "neukoellner.net", zeichnet die Jury mit großer Freude einen Beitrag aus, der aus einer neuen Form der Finanzierung von hochwertigem Journalismus entstanden ist. Stellvertretend für zahlreiche Werke von CORRECT!V erhält "MH17 – Die Suche nach der Wahrheit" einen Preis. Crowd- und Stiftungsfinanzierung ist inzwischen ein häufig anzutreffendes Finanzierungsmodell und steht neben eher privaten Low-Budget-Angeboten, die von einer klugen Idee leben wie beispielsweise die "Floskelwolke". Aber natürlich gibt es auch die ganz großen, international organisierten und finanzierten Produktionen, denen es Jahr für Jahr gelingt, ihr ohnehin hohes Niveau noch ein Stück zu steigern. Dieses Mal ist das neben "Polar Sea 360°"dem ausgezeichneten Angebot "netwars/out of CTRL" ebenso beeindruckend wie beklemmend gelungen.
Aber wer Grenzen auslotet, gerät auch in Gefahr, Grenzen zu überschreiten. Die Jury warnt ausdrücklich davor, dass die neue Lockerheit bei der Nennung von Marken und Produkten zu Schleichwerbung mutieren kann. Sie kritisiert, dass bei der rasanten Entwicklung der visuellen Möglichkeiten die Nutzbarkeit hin und wieder auf der Strecke geblieben ist. Wo Fantasie und Kreativität den Pfad des Erwartbaren verlassen, muss die Usability ein verlässlicher Wegbegleiter sein.