Nein, das Internet ist nicht kaputt. Aber sein Ruf ist ramponiert. Es gilt als Fake-News-Schleuder, als Tummelplatz für Verschwörungstheoretiker und Extremisten, als Brutkasten einer postfaktischen Sicht auf die Welt. Social Bots manipulieren das Meinungsbild, Hassreden scheinen nahezu jeden Diskurs zu ersticken. Wer ob dieser wenig erfreulichen Entwicklung zu zweifeln beginnt, dass die Erfindung des Internet wirklich eine so gute Idee war, dem empfehlen wir die Mitgliedschaft in der Nominierungskommission für den Grimme Online Award. Da gewinnt man den Glauben an das Gute im Web schnell zurück!
Davon gibt es reichlich, auch und gerade dort, wo das Netz seine wunden Punkte offenbart. Bewusst haben wir bei der Auswahl der Finalisten auch Projekte in den Blick genommen, die das Web als Werkzeug für zivilgesellschaftliches Engagement begreifen. Wir suchten und fanden Initiativen, die aufklären, Transparenz schaffen, sich gegen Ausgrenzung stark machen, Akteure vernetzen und die konstruktiv dazu beitragen, die Online-Diskussionskultur wiederzubeleben.
Thematisch spiegelt sich in den Einreichungen ein dramatisches Jahr wider: Brexit, Terror, Trump - wenn die Ereignisse sich überschlagen, kann die Online-Publizistik ihre Stärken in der Echtzeitberichterstattung ausspielen. Zugleich wächst die Zahl der ausgeruhten, analytischen Stücke, die Zusammenhänge medienadäquat beleuchten - und dabei mitunter auch die Schwächen eben jener Echtzeit-Publizistik aufarbeiten.
Auffällig: Das Erstarken der Rechten ist zwar vielfach Thema, gleichwohl bleibt die Zahl der Angebote zum Wahljahr 2017 überschaubar - dabei wäre das Netz das Medium der Wahl, wenn es darum geht, Raum für Positionen und Debatten und für partizipative Formen der politischen Willensbildung zu schaffen. Unsere Nominierung auf diesem Feld möchten wir als Impuls verstanden wissen: Da geht noch was!
Multimediales Storytelling hat sich etabliert und wirkt von Jahr zu Jahr ausgereifter. Kaum eine Online-Reportage verzichtet noch auf Video und Audio, interaktive Elemente wie Karten, Grafiken, Visualisierungen (inklusive Bereitstellung der Rohdaten in maschinenlesbaren Formaten) und neue Perspektiven durch Drohnenaufnahmen gehören mit wachsender Selbstverständlichkeit zum Repertoire des digitalen Erzählens. Erkennbar ist das Bemühen, längere Webtexte lesefreundlicher zu gestalten, etwa durch zuschaltbare vertiefende Informationen. Zunehmend investieren Anbieter in Programmierung und Design, statt auf vorgefertigte Templates zurückzugreifen. Um nicht missverstanden zu werden: Auch mit Standardwerkzeugen, zu denen ein Erzähltool wie "Pageflow" inzwischen ja gehört, lassen sich nach wie vor auszeichnungswürdige Geschichten erzählen! Visuelles Storytelling findet auf höchstem Niveau statt. Detailreich gezeichnete, animierte Darstellungen und Webcomics vermögen auch ein "unbebilderbares" Thema eindringlich zu vermitteln. Gleich zwei dieser Angebote haben wir nominiert.
Nachholbedarf sehen wir allgemein bei der Usability: Orientierungshilfen, nutzerfreundliche Strukturen und barrierefreie Zugänge sind zwar keine Seltenheit, aber auch noch nicht so selbstverständlich, wie es mehr als ein Vierteljahrhundert nach Erfindung des Web zu erwarten wäre.
Zurück zum Positiven: Die Anbieter bleiben nicht stehen, sondern trauen sich, die nächsten Schritte zu machen. Gut, manchmal geht's in die falsche Richtung: Welchen Mehrwert bietet zum Beispiel ein 360°-Video, wenn es ringsherum nichts zu sehen gibt? Innovative Technologie allein macht noch kein herausragendes Angebot; beim Zusammenspiel von Inhalt und Format trennt sich die Spreu vom Weizen. Es scheint, als müsste die Online-Publizistik diesen Lernprozess bei jeder neuen Technologie erneut durchlaufen.
Virtuelle Realität versetzt uns im besten Fall mitten hinein ins Geschehen, lässt uns unzugängliche Orte erkunden und sogar in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen. Im schlechten Fall beschränkt sie sich auf bloße Effekthascherei. Die Nominierungskommission (zu deren Arbeitswerkzeug in diesem Jahr erstmals auch die VR-Brille gehörte) fand beides vor - die nominierten Angebote aber zeigen auf, dass sich hier eine vielversprechende digitale Form der Vermittlung herausbildet, die aus passiven Rezipienten aktiv Erfahrende macht.
Andere Entwicklungen mögen vergleichsweise unspektakulär daherkommen, wir halten sie jedoch für nicht minder spannend. Konstruktiver Journalismus setzt dem alten Prinzip "Bad news are good news" eine neue Ausrichtung entgegen. Kuratierungsplattformen locken uns mit fundierten Expertenempfehlungen aus der eigenen Filterblase. Newsbots versorgen uns mit personalisierten Nachrichten im Gesprächsformat. Erste deutschsprachige Angebote versuchen sich an neuen journalistischen Formaten, die auf eine junge und mobile Generation und deren Kommunikationsgewohnheiten zugeschnitten sind. Snaps und Stories sehen wir als Nachrichtenformate mit Potenzial.
Gerne hätten wir mehr kleinere Angebote nominiert. Viele Einzelkämpfer, Blogger und Twitterer sind lange etabliert, und nicht wenige hinterließen einen guten Eindruck. Doch eine Welle neuer, innovativer kleiner Angebote konnten wir nicht ausmachen.
Positiv fällt aber auf: Neben den Presseverlagen beschäftigen sich auch kleinere Anbieter und Freelancer verstärkt mit dem Thema Monetarisierung. Journalistische Portale, Blogs und auch Podcasts versuchen ihr Glück mit einem durchlässigen Freemium-Modell und tragen damit auch dazu bei, die Akzeptanz für Bezahlinhalte im Netz zu erhöhen.
Fazit: Bei der Bandbreite an auszeichnungsfähigen Angeboten bestand die größte Herausforderung für die Nominierungskommission in diesem Jahr darin, mit den 28 verfügbaren Plätzen fürs Finale auszukommen. Am Ende fiel die Entscheidung buchstäblich im Fotofinish. Die Besten der Besten aus diesem Kreis auszuwählen, das dürfte nicht leicht werden. Wir beneiden die Jury nicht um diese Aufgabe!