Sicher: „Das eine, alles beherrschende Thema des Jahres – in den Medien und damit erst recht im Internet, in dem alle Medien zusammenwachsen – kommt bei den Preisträgern des Grimme Online Award 2022 nicht vor“, schreibt die Jury in ihrem Statement – mit Blick auf den Krieg in der Ukraine. Und doch ist die eben in der Kölner Flora zu Ende gegangene Preisverleihung nicht nur ein Fest für Qualität im Netz, sondern zugleich hoch aktuell – gerade auch vor dem Hintergrund des Krieges, der einmal mehr ein Informationskrieg geworden ist.
So ist der Angriffskrieg auf die Ukraine jederzeit präsent: In Laudationes, wie für den Preisträger „Nuclear Games“, der sich mit acht Jahrzenten Nukleartechnologie beschäftigt. Er klingt aber auch in anderen Netzangeboten an, die sich mit Flucht und Vertreibung beschäftigen, ebenso wie in den Gesprächen während und nach der Preisverleihung.
„Die Zeiten waren ernst, und sie sind es – leider – weiterhin. Das spiegelt sich in der Online-Publizistik“, stellt auch Nathanael Liminski, Chef der Staatskanzlei NRW und Staatsekretär für Medien, in seinem Grußwort fest, „das wiederum ist ein gutes Zeichen. Denn es zeigt: Wir haben eine Online-Publizistik, die uns als Gesellschaft den Spiegel vorhält." Ausführlich würdigt Liminiski die besten Formate dieser Online-Publizistik, nämlich die Nominierten des Grimme Online Award, und ihre gesellschaftliche Relevanz: „Die Stärke einer Demokratie liegt in der Vielfalt – das gilt umso mehr für ihre Medien. Nur eine echte Vielfalt von Stimmen und Meinungen macht immun gegen Propaganda.“
Auch Grimme-Direktorin Dr. Frauke Gerlach verwies auf die besondere Orientierungsfunktion des Grimme Online Award in diesen Zeiten, wo (Des-)Information einmal mehr „zur Waffe“ geworden sei. „Wir sehen im Netz aber auch eine robuste Zivilgesellschaft, die viel zu selten im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung steht. Zugleich gibt es eine Formatvielfalt, die nicht nur Inhalt, sondern auch Freude vermittelt. Nicht zuletzt, zeigen Institutionen wie beispielsweise Museen, mit eigenen, sehr aufwändigen, multimedialen Websites, wie man niederschwellig und jenseits der Ausstellungen vor Ort auf die Bürgerinnen und Bürger zugehen kann“, so Gerlach weiter.
Auch eines dieser Museumsprojekte – von denen mehrere nominiert waren – konnte eine Trophäe auf der Bühne entgegennehmen. Und so waren es nicht die Krisen dieser Tage, die die Preisverleihung prägten, sondern glückliche Preisträger*innen, tolle Laudator*innen und nicht zuletzt die Möglichkeit, sich endlich wieder „live und in Farbe“ begegnen zu können und manchmal auch vor Freude zu umarmen. Ein Übrigens taten die einfühlsame Moderation von Mona Ameziane und die musikalische Begleitung durch die Elektropop-Band Pudeldame.
Den Anfang machten die Preisentscheidungen in der Kategorie „Wissen und Bildung“ mit der Laudatorin Marie Nasemann, Schauspielerin und Fair Fashion Aktivistin, mit einem Preis für ein innovatives TikTok-Format – von der Gesundheitsredaktion des rbb: „safespace.offiziell“ vermittelt einem jungen Publikum alles über Sexualität und die Veränderungen des Körpers . Mit seiner diversen Besetzung der Hosts, dem authentisch genutzten Format und der sympathischen Wissensvermittlung habe es „alles richtig“ gemacht, so die Jury, was sich auch in der gelungenen Interaktion mit den User*innen zeige: „‘safespace.offiziell‘ trifft in das Herz der Community und hat damit einen wahren safe space für Mädchen und junge Frauen geschaffen.“
In der gleichen Kategorie erhielt „Nuclear Games – Die atomare Bedrohung“, von Docmine und der Schweizer SRG. Überreicht wurde er von Simon Beeck, seit kurzem Moderator der Frühsendung „RTL Punkt 6“. „Nuclear Games" erzählt in einem klugen Mix aus interaktiver Animation und Web-Dokumentation und eröffne so Einblicke „in die Schicksale der bisher häufig unsichtbar gebliebenen Menschen, die für unsere Atomkraftwerke und unsere Atomwaffen mit ihrer Heimat oder gar ihrem Leben bezahlt haben“, so die Jury. Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erhält „Nuclear Games“ zudem starke aktuelle Bezüge, haben doch „Fragen zur Sicherheit der Kernenergie sowie Bedrohungsszenarien durch den möglichen Einsatz von Nuklearwaffen neue Relevanz“ bekommen, so die Jury weiter.
Mit einer Bedrohung anderer Art setzt sich dagegen die MDR Scrollytelling-Reportage „Umwelt in Ostdeutschland“ auseinander: eben mit der bedrohten Umwelt auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und deren Einfluss auf Natur und Klima – Preisträger in der Kategorie Information, ebenfalls überreicht durch den gebürtigen Görlitzer Beeck. Überzeugen kann dabei vor allem die souveräne Gestaltung: „Hier schafft es eine herausragende Datenvisualisierung in das Preisträgerfeld, die Zahlen nicht nur begreiflich macht, sondern sie mit Freude entdecken lässt, auch wenn die Gesamtlage eher unerfreulich ist.“
Aufwendige Recherchen finden im Netz dabei immer wieder ihre Form in Scrollytelling-Reportagen oder auch in mehrteiligen Podcasts, wie bei den weiteren Preisträgern in der Kategorie Information: Ein Preis ging an den Podcast „Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?“ von Studio Bummens, NDR, rbb und K2H. Gekonnt wird hier mit viel Originalmaterial nachgezeichnet, wie aus einem innovativen Radiomoderator und professionellen Medienmacher einflussreicher Verschwörungsideologe werden konnte. Die hohe Relevanz entstehe aber auch dadurch, so die Jury „dass an der Figur Jebsen auch die Entstehung und rechte Instrumentalisierung der 'Querdenker'-Szene veranschaulicht wird.“
Überreicht wurde der Preis von dem Mann mit den wohl bekanntesten blauen Haaren Deutschlands, der vor zwei Jahren selbst einen Grimme Online Award gewinnen konnte: YouTuber und Multitalent Rezo – damals leider ohne Party, nur in einer Zoom-Schalte.
Ebenfalls in der Kategorie Information ausgezeichnet wurde der NDR-Podcast „Slahi – 14 Jahre Guantánamo“, überreicht durch Pudeldame-Bandleader, Schauspieler und Grimme-Preisträger Jonas Nay. Erzählt werde bei „Slahi“ mit gebührend „Raum für Ambivalenz“ die Geschichte eines ehemaligen Gefängnisinsassen, so die Jury in ihrem Statement und lobt die Macher Bastian Berbner und John Goetz: „Die beiden Moderatoren nehmen immer wieder unterschiedliche Perspektiven ein“ und setzten „das gern bemühte Podcast-Prinzip dialogischer Präsentation produktiv ein“.
Nicht umsonst kommen solch aufwendige Recherchen oft vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk und nicht von Lokalmedien – dort fehlen zumeist finanzielle wie personelle Ressourcen. Abhilfe schafft hier „CORRECTIV.Lokal“, so erklärt die Jury. „Ausgehend vom einfachen Netzwerkgedanken ermöglicht das Recherchekollektiv Lokaljournalist*innen, das zu tun, was die Leser*innen von ihnen erwarten: über bundesweit relevante Themen im Lokalen zu berichten“, Dafür erhält „CORRECTIV.Lokal“ den Preis in der Kategorie Spezial, laudatiert durch den Grimme-Preisträger, Monitor-Redaktionsleiter und -Moderator Georg Restle.
Der Bilderzyklus „Captivity“ von Fred Uhlman ist die Grundlage des Netzangebots „Im Dunkeln – ein Leuchten“ der Staatsgalerie Stuttgart – einer von zwei Preisträgern in der Kategorie „Kultur und Unterhaltung“. Mit einer digitalen Taschenlampe werden hier Stück für Stück die düsteren, teils phantastischen Zeichnungen freigelegt, mit denen Uhlman die Schrecken des Zweiten Weltkriegs verarbeitete. „Erstaunlich einfach konzipiert“ befindet die Jury, aber vielleicht gerade deshalb preiswürdig: „Die dezente Interaktivität zeigt, dass auch im Internet-Jahrgang 2021/22 scheinbar schlichte Mittel große immersive Wirkung entfalten können“, so die Jury.
Eine große immersive Wirkung entfaltet auch die Multimedia-Reportage „Kandvala“ von Sitara Thalia Ambrosio und Iván Furlan Cano, ebenfalls Preisträger der Kategorie Kultur und Unterhaltung. Die beiden jungen Fotojournalist*innen haben ihre Arbeit selbst finanziert und mit Hilfe von Freund*innen veröffentlicht. „Kandvala“ sei ein in „jeglicher Hinsicht herausragendes Projekt“ befindet die Jury, den beiden gelänge es mit Hilfe ihrer Bilder, Videos und Tondokumente, ein „facettenreiches Portrait der Geflüchteten zu erstellen und mit einer ausdrucksstarken Bildsprache zu versehen“, wobei die Produktion als Multimedia-Erzählung im digitalen Raum, die technische Umsetzung und die visuelle Gestaltung als Gesamtwerk lückenlos ineinandergreife.
Aber nicht immer waren an diesem Abend die Jury und ihr Urteil gefragt: Den Publikumspreis konnte am Ende der Preisverleihung der YouTube-Kanal „Scobel“ gewinnen, in dem Gert Scobel seinen philosophischen Blick auf die unterschiedlichsten Themen zwischen Geschichte des Internets und Abrüstung wirft. Überreicht wurde der Publikumspreis vom YouTuber Rezo.