Nachdem im vergangenen Jahr die Corona-Pandemie Auslöser für unzählige Angebote war, nahm diesmal der Klimawandel – analog zu seiner wieder gewachsenen Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung – einen breiten Raum bei den Einreichungen zum Grimme Online Award ein. Das drängende Problem der Erderwärmung wurde in Statistiken, Hintergrundrecherchen, Podcasts und Best-Practice-Beispielen ebenso aufgegriffen wie die Frage, wie jede und jeder Einzelne sich klimagerecht verhalten kann. Zwei der Angebote schafften es auf die Nominiertenliste: “Umwelt in Ostdeutschland” und “Wir schalten ab, sie heizen hoch”. Daneben spielte die Aufarbeitung deutscher Geschichte eine zentrale Rolle: im Mittelpunkt hier die Auseinandersetzung mit der Nazi-Diktatur, aber auch die jüngere Geschichte wie der "Deutsche Herbst". Auch aus diesem Komplex wurden Angebote für den Grimme Online Award nominiert.
Erneut sah sich die Nominierungskommission aufgrund der Pandemieentwicklung gezwungen, virtuell zusammenzukommen, um sich über die Einreichungen auszutauschen und abzustimmen. Im Ergebnis entstand eine Nominierungsliste aus 27 Angeboten in vier Kategorien. Die Auswahl spiegelt eine breite Themenvielfalt wider: Neben den zwei bereits genannten Schwerpunkten finden sich unter den Nominierungen lokaljournalistische Projekte, Wirtschaftsrecherchen, aber auch die Aufarbeitung von sexueller Gewalt und ganz persönliche Erfahrungen mit Alzheimer.
In der zwei Tage währenden Diskussion stellten die Kommissionsmitglieder allerdings fest, dass – mit Blick auf das gesamte Themenspektrum – diesmal deutlich weniger Angebote als in den Vorjahren aus einem breiten Mittelfeld herausstachen. In diesem Sinne war dies leider kein herausragender Jahrgang der Online-Publizistik in Deutschland. Gleichzeitig zeigte sich eine Konsolidierung von Formaten wie beispielsweise auf Instagram oder im Feld der Podcasts, so dass die Nominierungskommission es für schwierig erachtet, aufgrund der Darstellungsformen herausragende Angebote auszuwählen. Hier ist zukünftig insbesondere von Experimenten auf neuen (sozialen) Plattformen wie TikTok Innovatives zu erwarten. Ferner erhofft sich die Kommission in den kommenden Jahren viele frische Ideen, die sich aktuelle technische Trends wie Virtual oder Augmented Reality intelligent zunutze machen; diese fehlten 2022 bedauerlicherweise.
So standen für die Nominierungskommission insbesondere inhaltliche Ansätze und Fragestellungen im Fokus: Bei den Podcastangeboten fiel beispielsweise auf, dass dahinter oft starke (investigative) Rechercheleistungen zu relevanten gesellschaftlichen Themen standen. Zu hören war eine Rückbesinnung auf klassisches journalistisches Handwerk, verbunden mit modernem Storytelling und durchdachten Dramaturgien. So geht “BREITSCHEIDPLATZ” der Frage nach, was bei dem islamistischen Anschlag in Berlin wirklich passiert ist und ob er hätte verhindert werden können. In “Slahi – 14 Jahre Guantánamo” wird der ehemalige Gefangene mit seinen einstigen Folterern zusammengebracht – ein eindrucksvoller Moment von Geschichtsaufarbeitung.
Bemerkenswert insgesamt auch: die Integration von Formatvielfalt. Das heißt, Stories werden über mehrere Plattformen und Darstellungsformen hinweg erzählt; Website, Podcast, Video und Social Media in einem Angebot miteinander verbunden. Es zeigt sich zudem, dass klassische Medienanbieter (Fernsehen, Radio, Print) ihre Inhalte zunehmend auch auf Plattformen wie TikTok, Instagram und YouTube ausspielen und diese somit zielgruppenspezifischer aufbereiten. Auch Nischen können so bedient werden. Zu nennen ist das TikTok-Format “safespace.offiziell”, in dem junge Frauen tabulos, unterhaltsam und kompetent Antworten auf intime medizinische Fragen erhalten – von Körperbehaarung bis zu Dehnungsstreifen. Bitte mehr von solchen Kanälen und mehr solcher intelligenten Tabubrüche! Coole Formate kommen aber auch von einzelnen kleineren Initiator*innen. Grandios etwa, wie die Historikerin Leonie Schöler als @heeyleonie auf TikTok Geschichtsthemen erklärt.
Wichtige gesellschaftliche Prozesse wie die Kolonialismus-Debatte oder die Diskussion um Identitätspolitik wurden dagegen kaum aufgegriffen, so dass es zu diesen Themen keine Nominierungen gibt. Auch die überzeugende Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus und Fragen der Demokratieverteidigung kamen zu kurz.
Leider muss die Nominierungskommission in diesem Jahr erneut monieren, dass bei den Einreichungen Angebote für Kinder unterrepräsentiert waren. Auch wenn im öffentlich-rechtlichen KiKa entsprechende Formate im Fernsehen entwickelt werden, so sind innovative Netzangebote für Kinder doch sehr selten und die meisten eingereichten Projekte konnten die Nominierungskommission nicht überzeugen. Aber ein Kinderformat hat es auf die Nominierungsliste geschafft: "Abgespaced – Der Weltraum von A bis Z”, ein Kinderpodcast der Stiftung Planetarium Berlin, in dem Kinder gemeinsam mit Moderatorin Kristin Linde das Weltall erkunden.
Besonders lobend hervorzuheben sind die – noch wenigen – barrierefreien Angebote, die sich etwa direkt an die Community der Gehörlosen und Schwerhörigen wenden, so zum Beispiel der nominierte TikTok-Kanal @kopf_hand_und_fuss, auf dem Musikwissen in Gebärdensprache vermittelt wird. Für die Zukunft wünscht sich die Nominierungskommission, dass die Barrierefreiheit weiter vorangetrieben und mehr Inklusion in Social-Media-Angeboten geschaffen wird. Es gibt also eine denkbare Vielfalt an Themen, aber auch Formen und Kanälen, um ideenreich und gerne auch mutig Akzente in der Online-Publizistik zu setzen. Jetzt müssen sie nur noch fest im medialen Mainstream ankommen.