Bringen wir den Rant gleich hinter uns:
Wir hätten da mal eine Frage an alle Medienschaffenden, an Sender, Publisher, Initiativen, die sich auf die Fahne schreiben, gute Webangebote für Kinder entwickeln zu wollen: Hallo? Ist jemand zuhause?
Jahr für Jahr beklagt die Nominierungskommission für den Grimme Online Award einen eklatanten Mangel an wegweisenden Angeboten für die jüngsten Netizens. Selbst mit viel Mühe sind allenfalls vereinzelt vielversprechende Ansätze zu finden. Das ernüchternde Fazit zu Kinder-Angeboten lautet auch 2019: Zu wenig, zu lieblos, zu uninspiriert.
Dass die Initiative „Ein Netz für Kinder“ der Bundesregierung sich aus der Förderung neuer Angebote zurückzieht und darauf beschränkt, bestehenden Projekten beim Weg ins Mobilzeitalter unter die Arme zu greifen, damit diese nicht völlig hinterm Mond wirken, wird nicht dazu beitragen, diesen Mangel zu beheben. Unterm Strich muss man deutlich sagen: Das Thema „Kinderangebote im Netz“ ist ein Trauerspiel.
ARD und ZDF haben mit ihrem Jugendangebot „funk“ vorgemacht, wie man Jugendliche und junge Erwachsene im Netz erreicht. Wann nehmen Medien endlich auch die Verantwortung für die unter 13-Jährigen wahr, wann finden auch Kinder endlich qualitativ hochwertige publizistische Angebote im Web in einem nennenswerten Umfang? Andernfalls sollten wir uns nicht wundern, wenn auch die ganz jungen Nutzerinnen und Nutzer ihre digitale Heimat bei kommerziellen US-Konzernen und deren Netzwerken suchen. Bei dieser Gelegenheit: Wenig spricht dagegen, dass die Öffentlich-Rechtlichen auf solchen Plattformen präsent sind – solange sie sich nicht darauf beschränken, ihre von allen Beitragszahlern finanzierten Inhalte den digitalen Großkonzernen zu übereignen. Die Forderung lautet: Macht euch nicht abhängig – und euren Content auch künftig auf alternativen Kanälen zugänglich!
Innovationen sind insgesamt in diesem Jahr rar – aus Sicht der Nominierungskommission ist das aber kein Beinbruch. Denn jenseits der Kinderangebote sehen wir eine erfreuliche Konsolidierung sowohl der publizistischen Qualität als auch der passgenauen Darstellungsformen. Formate und Genres wie Datenjournalismus, Visualisierungen, interaktive Anwendungen, multimediale Scrolly-Reportagen haben sich auf hohem Niveau etabliert, Nutzerinnen und Nutzer können hier aus dem Vollen schöpfen. Crowdfinanzierter Journalismus hat die Experimentierphase hinter sich gelassen, Augmented oder Virtual Reality sind keine Ausnahmeerscheinungen mehr. Sinnvoll ein- und technisch gut umgesetzt, vermögen solche Angebote auch die Nominierungskommission zu überzeugen.
Begeistern kann sich die „NomKom“ für die Entwicklung, die der auditive Teil des Web genommen hat: Podcasts sind zu einer festen Größe im Repertoire der Netz-Publizistik geworden, immer mehr Angebote bestechen durch stimmige inhaltliche Konzepte und professionelle Umsetzung. Die Auswahl an guten Podcasts ist riesig, viele Angebote hatten es in die engere Auswahl geschafft und die Nominierungskommission vor echte (zeitliche) Herausforderungen gestellt. Ein Fazit am Rande: Es gibt tatsächlich noch Interview-Podcasts, in denen bislang weder Robert Habeck noch Sophie Passmann zu Gast waren. ;)
Das Netz und seine Möglichkeiten der Multimedialität, der Interaktivität, der Partizipation werden ausgeschöpft, um den kulturellen Horizont zu öffnen, um Wissen und Geschichte zu vermitteln. Auch in diesem Jahr greifen Anbieter auf die ganze Bandbreite des digitalen Storytelling und auf die unterschiedlichsten Kommunikationskanäle zurück, um beispielsweise zeitgeschichtliche Ereignisse zu begleiten. Nicht nur die Aufbereitung eines der bestimmenden Themen des Jahres, des endgültigen Abschiedes vom Steinkohle-Bergbau in Deutschland, zeigt das eindrücklich.
Blogs, angesichts der Massenbewegungen hinter die Zäune der kommerziellen Social-Media-Netzwerke immer wieder totgesagt, sind aus unserer Sicht quicklebendig und bieten auch 2019 vielfach Raum für thematische Expertise, für Aufklärung und Transparenz, für persönliche Perspektiven und Erfahrungsberichte – auch über Themen, die wehtun. Wir möchten nicht auf Blogs verzichten!
Ebenfalls positiv zu vermerken: Die Forschung verlässt immer öfter ihren Elfenbeinturm und nimmt mit gut durchdachten Konzepten die Herausforderung an, der Öffentlichkeit die Ergebnisse ihrer Arbeit verständlich darzustellen. Archive öffnen ihre Depots und lassen sich kreative Wege einfallen, ihre Schätze und ihr Wissen zu digitalisieren und übers Netz zugänglich und auch im Stadtbild auffindbar zu machen.
Die erfreuliche Vielfalt an Themen und Formaten spiegelt sich in den Nominierungen wider: Von aufwändig produzierten Longreads, web-gestützten Datenrecherchen und Visualisierungen, von VR über Blogs und Podcasts bis hin zur Bleistiftkunst bietet das Netz Raum. Die Liste der Nominierten für den Grimme Online Award 2019 bildet nicht nur diese Bandbreite ab, sondern nimmt auch die Diversität ihrer Macherinnen und Macher in den Blick. Angebote, die von Einzelpersonen oder kleinen Teams aller Altersgruppen auf die Beine gestellt werden, stehen jenen aus potenten Medienhäusern aus unserer Sicht in nichts nach, wir schicken sie auf Augenhöhe ins Rennen um die Auszeichnung.
Übrigens: Ganz ohne Innovation muss der GOA-Jahrgang 2019 dann doch nicht auskommen – dafür sorgt die Nominierungskommission selbst. Mit der „TINCON”, dem Festival für digitale Jugendkultur, erweitern wir den Rahmen des Grimme Online Award keineswegs zufällig in einem Jahr, in dem die Debatte um die EU-Urheberrechtsreform den Graben zwischen Digital Natives und Digital Immigrants noch weiter vertieft hat.
Mit der „TINCON” ermächtigen sich Jugendliche und junge Erwachsene, das Netz als Ort der Kreativität, des Publizierens und Produzierens, des Lernens und der Wissensvermittlung, der Kommunikation und des respektvollen Miteinanders, kurzum: als natürlichen Lebensraum zu begreifen und gestalten. Der Grimme Online Award als Preis reflektiert immer auch das Fließen der Formatgrenzen und gewährt Nominierungskommission und Jury große Freiheiten. Die nutzen wir gerne. Vielen Dank!