Es gibt heutzutage Menschen, die um die fünfzig sind und die Hälfte ihres Lebens mit dem Web verbracht haben. Diese Spanne von 25 Jahren, die eine komplette Menschengeneration umfasst, bot nicht nur Nutzer*innen genügend Zeit, sich an die Vielfalt der Konzepte im Netz zu gewöhnen. Gleichzeitig hatten die Anbieter*innen Gelegenheit, in der Diversität klar erkennbare Formate und verlässliche Standards der Online-Publizistik zu entwickeln. Die diesjährige Jury spürte das mit Blick auf das Tableau der Nominierten und auch bei der Preisfindung.
Dass Dinge im Netz mitunter ein bisschen Zeit brauchen, um von einer guten Idee zu einem herausragenden Angebot zu werden, zeigt der Preisträger „Krautreporter“. Das Experiment, Qualitätsjournalismus auf Basis einer Genossenschaftsidee entgegen gelernter Gewohnheiten konsequent kostenpflichtig anzubieten, hat einige unruhige Phasen durchlebt. Nunmehr präsentiert sich das Angebot konsolidiert und stellt heraus, wie ein unabhängiger, qualitativ hochwertiger Journalismus im Netz aussehen kann.
Übrigens: Der Blick auf die diesjährigen Preisträger des Grimme Online Award zeigt nicht nur auf, dass das Netz insgesamt mittlerweile Gegenstand historischer Betrachtungen sein kann. Der Preis selbst ist längst erwachsen geworden und feiert im kommenden Jahr zwanzigstes Jubiläum. Man fragt sich: Wo sind sie, die ersten Digitalhistoriker*innen, die einen Blick genau darauf werfen? Und: Wird es Angebote geben, die sich mit der Entwicklung des Netzes systematisch befassen? Auf ganz eigene Weise macht das bereits jetzt das „Techniktagebuch“, ein Gemeinschaftsblog, das seit über fünf Jahren die Veränderungen in der uns umgebenden Alltagstechnik erfasst und reflektiert. Das Motto des Blogs „Ja, jetzt ist das langweilig. Aber in zwanzig Jahren!“ beschreibt den preiswürdigen Ansatz sehr gut – und wird ihm doch nicht gerecht. Denn es ist überhaupt nicht langweilig, wie die Autor*innen ihre Beobachtungen „zu Papier“ bringen. Die Jury hätte am liebsten sofort eine Zeitreise in die Zukunft unternommen, um zu sehen, ob die Einträge von heute „in zwanzig Jahren“ durch den Reifungsprozess noch besser geworden sind. Netz-Publizistik ist also mitunter wie guter Wein: Mit der Zeit wird die Qualität noch besser.
Die Renaissance eines gefühlt in die Jahre gekommenen Formats zeigte sich bereits in den Nominierungen: Podcasts sind nicht nur (wieder) in aller Munde. Sie zeigen auch, dass unter Rückgriff auf handwerkliche Regeln gut gebauter Radio-Features in Kombination mit Podcast-Stilelementen qualitativ hochwertiger Audio-Content im Netz verfügbar gemacht werden kann. Wenn sich wie beim prämierten Podcast „Mensch Mutta.“ die Autorin nicht nur auf eine spannende Spurensuche der jüngeren ostdeutschen Geschichte macht, sondern das geschickt mit der eigenen Familien-Historie verknüpft, kommt dabei ein wahres Schmuckstück heraus – und obwohl es sich um ein dokumentarisches Angebot handelt, ist man geneigt zu sagen: Kino für die Ohren. Dazu brauchte es keinen Sender im Hintergrund, keine große Redaktion. Wie sich über-haupt in diesem Jahrgang die Angebote durchgesetzt haben, die abseits der großen Häuser entstanden sind, als Teamwork oder von Einzelpersonen, manches Mal mithilfe der Crowd, immer mit viel Leidenschaft und oft ohne große Ressourcen.
Auch die Videoessays des in diesem Jahr prämierten YouTube-Angebots „Ultralativ“ und das ebenfalls ausgezeichnete kanalübergreifende Satire-Format „Krieg und Freitag“ zeugen von der Qualität individueller Angebote. Während auf der einen Seite zwei Studenten hochwertig produzierte Videos ins Netz stellen und „das Internet und den ganzen absurden Rest“ erklären, kommentiert auf der anderen Seite ein „Einzelkämpfer“ nebenberuflich mit Strichmännchen crossmedial Themen der Zeit. Und beide Formate erhalten dafür einen Award. Und Leidenschaft braucht es zum Beispiel, wenn die Basis für ein gelungenes Angebot die Auswertung und Verknüpfung größerer Datenbestände ist. Unter den Nominierungen, bei denen existierende Datenbestände verfügbar gemacht wurden oder die Auszählung von Häufigkeiten zu neuen Aussagen und Perspektiven führt, zeigt das aus Sicht der Jury auf preiswürdigste Art „Wem gehört Hamburg?“. Auf der Basis von durch Nutzer*innen bereitgestellten Daten zu Miet- und Eigentumsimmobilien wurde der Versuch unternommen, eine Schneise der Transparenz in das Dickicht des Wohnungsmarkts zu schlagen. Das Konzept des Crowd-Newsrooms ist für andere Städte, in denen man Gleiches untersucht, adaptierbar – und bietet mit seiner netzpublizistischen Aufbereitung auch in Partnermedien die Grundlage für die Debatte zu einem gesellschaftlich hoch relevanten Thema.
Den Blick von einem alle Welt interessierenden (sporthistorischen) Ereignis auf Nebenschauplätze zu richten war das Konzept von „Buterbrod und Spiele“. Im zeitlichen Umfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland machten sich die Autoren auf einen Weg abseits der Spielorte. Finanziert hatten das interessierte Nutzer*innen durch Crowdfunding – und wurden belohnt mit einer absolut zeitgemäß aufbereiteten und journalistisch hochwertigen Reportage-Reise. Die Qualität der Texte und Fotos macht das Ganze dann zu einem der Preisträger.
Dass das Netz aber nicht nur zu historischen Betrachtungen taugt, sondern auch für den Blick nach vorne, zeigt die Prämierung der TINCON. Dieses Event-Format gäbe es nicht ohne das Internet. Es macht das Internet mit Blick auf die nachwachsende Generation zum Thema und bietet einen Diskursraum für junge Menschen zwischen 13 und 21 Jahren. Den Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte, wie das Netz unser Leben mitbestimmt und wie das künftig sein sollte, hat die Jury als preiswürdig erachtet.
Insgesamt lässt sich feststellen: Wegweisende Technikspielerei muss keine Bedingung für einen Grimme Online Award sein, dieses Jahr gehen die prämierten Angebote eher auf den Kern des (guten) Journalismus zurück und werden für genau diese Qualität ausgezeichnet. Die Jury ist gespannt, welche neuen Formate sich im kommenden Jubiläumsjahr zeigen, und freut sich auf frische Ideen der Online-Publizistik.