Im Alltag angekommen: Wichtige neue Formen und Formate des Online-Publizierens haben sich inzwischen fest etabliert; was vor kurzem noch unter dem Label "Storytelling" als rare Innovation bewundert wurde, hat in diesem Jahr die Jury des Grimme Online Award vielfältig in hoher Qualität begeistert und ihr die Wahl schwer gemacht. Dieser Trend wurde insbesondere durch "Snow Fall" beflügelt, die vorbildliche journalistische Aufbereitung eines Lawinenunglücks durch die New York Times Ende 2012. Während immer häufiger opulente Grafik, Bilder und Filme im Vollformat zur Geltung kommen, schaffen es aber auch andere Spezialisten, ihre Räume zu verteidigen und mit kreativen Ideen neues Publikum zu finden – dazu gehören klassische Blogs ebenso wie schräge Videoformate. Trotz aller Verstetigung treibt ungebremste Innovationskraft die Möglichkeiten des Erzählens voran und schafft selbstständige Formate. In die Freude über die Vielfalt und Güte der Angebote mischte sich aber auch Bedauern: Dass Smartphone, Phablet und Tablet den unbeweglichen PC als Internet-Cockpit ablösen, hat sich in der Jury-Arbeit nicht niedergeschlagen. Im Wettbewerb fanden sich weder passend für die mobile Anwendung zugeschnittene Online-Angebote noch Apps.
Wenn es 2013 einen herausragenden Trend gab, dann war es das Storytelling, das die technischen und optischen Werkzeuge des Netzes in ihrer Vielfalt nutzt, um das Publikum in die Geschichten hineinzuziehen und zu fesseln. Das Themenspektrum hat sich über das Feld der Reportage ausgedehnt, es umfasst beispielsweise großartige Dossiers und spannende politische Analysen, in sich abgeschlossene komplexe und aktuelle Angebote, die dank kluger Einbindung der Sozialen Netzwerke das Publikum dauerhaft teilhaben und mitreden lassen. Die Jury würdigt, dass bei der Etablierung hoher optischer und technischer Standards auch die Qualität der Inhalte mitgehalten hat.
Als herausragenden Beitrag und stellvertretend für zahlreiche sehr gute Angebote prämiert die Jury "Zwischen Hoffnung und Verzweiflung – der neue Nahe Osten", ein außergewöhnlich umfang- und lehrreiches Dossier, das trotz seiner Fülle gut zu erschließen ist und inmitten aller Kreativität an vielen Stellen auch mit solidem Handwerk überzeugt.
Bei aller Verstetigung: Storytelling wird fortentwickelt. Anleihen aus der Welt der Videospiele verwandeln eine kluge, journalistisch blitzsaubere Reportage über den Abbau der Ölsande in Kanada in das Adventure-Game "Fort McMoney" von ARTE, und die Neue Zürcher Zeitung treibt in ihrem Beitrag "Du fliegst nur einmal" unter anderem die Verbindung von animierter Grafik und Video auf neue Höhen. Aber auch Standardisierung ist Fortentwicklung: Der WDR hat ein modernes Reportage-Tool entwickelt, stellt es kostenlos zur Verfügung, setzt damit einen hohen Produktionsstandard, belegt mit seinem bildgewaltigen Beitrag "Pop auf’m Dorf" über das "Haldern Pop Festival" überzeugend dessen Möglichkeiten – und verdient sich damit einen der Preise in der Kategorie Spezial.
Neben dem Storytelling sind Video-Formate als Megatrend im Auswahlverfahren deutlich spürbar. Vor allem neue Formate von YouTubern sprengen die gewohnten Fernsehformate, etablieren sich mit hunderttausenden Zuschauern, nutzen mühelos die Kommunikationsbreite und Interaktionsmöglichkeiten des Internet, empfinden den Dialog mit dem Publikum nicht als Last, sondern als Lust und sprechen so ein Publikum an, das diese Kreativität seiner neuen Idole honoriert und gerne mit ihnen diskutiert. Die neuen, frischen, frechen Formate und ihre Traditionen aufbrechenden, bisweilen respektlosen Protagonisten wie der ausgezeichnete "junge und naive" Tilo Jung werden auch in der Arbeit der etablierten Fernsehsender ihre Spuren hinterlassen. Allerdings bringt die große Freiheit der Kommentarkultur an anderer Stelle hin und wieder fragwürdige Auswüchse hervor, und die Jury rät zum korrigierenden, kommentierenden, einordnenden Eingriff von Moderatoren.
Die Jury befasste sich auch mit kuratierenden Online-Ansätzen, die traditionelle Medienangebote mit einem neuen Blickwinkel ausstatten und sie dadurch ergänzen. Aus diesem Angebot ausgezeichnet wird der "Pressekompass", der die öffentliche und veröffentlichte Meinung so geschickt auf einen Blick miteinander verbindet, dass aus dieser Verbindung sowohl ein neuer Navigationsansatz als auch eine neue Nachricht entsteht: Wie weit entfernen sich bei diesem Thema die professionellen Kommentatoren von ihrem Publikum?
Nach wie vor breitet sich vor Jury und Nominierungskommission eine lebendige Bloglandschaft aus, die immer wieder neue Gipfel auffaltet. Die Jury freut sich über sehr persönliche, tagebuchartige Angebote ebenso wie über Plattformen, die ihr Publikum aktiv und erfolgreich zu Koautoren machen und auf diese Weise hier ihr Themenspektrum erweitern und dort Spezialwissen vertiefen.
Aus dieser Vielfalt von hoher Qualität hat die Jury ein lokales Blog gewählt, das einen ganz persönlichen Blick auf die (zum Stadtteil mutierte) Kleinstadt "42553 Neviges" wirft, das Stadt und Bewohner ganz nah künstlerisch begleitet, hellwach dem Alltag entlockte Schwarz-Weiß-Motive mit klugen Textelementen kombiniert und damit eine Stimmung erzeugt, die die Tristesse vieler Innenstädte mit viel Heimatliebe verbindet. Der Preisträger steht so für die Tendenz zu ganz persönlichen, distanzfreien, künstlerisch hochwertigen Blogs.
In diesem Jahr der Diskussionen über Themen wie NSA und Netzneutralität, die das Internet insgesamt beeinflussen und beeinträchtigen können, bedenkt die Jury ein Angebot mit einem weiteren Preis in der Kategorie Spezial, das seit Jahren als die gewichtigste deutsche Stimme eines freien Internet und seiner Nutzer bezeichnet werden kann: "netzpolitik.org". Schließlich hängt vom Ausgang der Diskussion und der sich anschließenden politischen Entscheidungen ab, in welcher Form sich qualitativ hochwertige Online-Angebote fortentwickeln und etablieren können – auch als eben jene Werke, die Jury und Nominierungskommission des Grimme Online Award mit großer Freude und Neugier von Jahr zu Jahr begutachten.