Jetzt ist der Grimme Online Award auch schon zwanzig Jahre alt, zeigte sich bei der Preisverleihung am 25.6. aber zeitgemäßer denn je, coronabedingt ohne Publikum vor Ort, dafür in der Form digitaler, vielfältiger und inhaltlich mit großer Ernsthaftigkeit: Vor allem die stark besetzten Kategorien Information sowie Wissen und Bildung dominierten. So stachen diesmal einige wissenschaftsgetriebene Angebote heraus, ebenso Projekte, die Archiv- und Erinnerungsräume im Netz aufmachten sowie ungewohnte, immer wieder überraschende Bewegtbildangebote.
In der von Michel Abdollahi moderierten Preisverleihung ließen prominente Preispat*innen Talkshowgefühl aufkommen: Mai Thi Nguyen-Kim war mit zwei eigens produzierten Laudationes per Video präsent, Sara Nuru, Michael Mittermeier, Laura Karasek und Rainer Maria Jilg selber vor Ort. Sie sorgten für eine angemessene Würdigung der Jury-Preisträger*innen – den Hauptpersonen an diesem Abend. Auch wenn diese nicht persönlich anwesend sein konnten, wurden sie zugeschaltet und erfuhren "live im Stream", ob sie zu den Glücklichen gehörten. Per Webcam konnten sie in kurzen Gesprächen Auskunft über ihre Projekte geben – ganz wie sonst auf der Bühne. Auch ohne Publikum vor Ort wurde es ein launiger Abend im Kölner Harbour.Club – mit intensiver Beteiligung des Netzpublikums, welches per Zoom an einem virtuellen Empfang teilnehmen konnte oder an einer ebensolchen Aftershow-Party.
Immer wieder wurde dabei nach vorne, aber auch zurückgeblickt: "Das Netz hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten mit unglaublicher Schnelligkeit verändert und prägt unseren Alltag, wie kein Medium zuvor", so Grimme-Direktorin Dr. Frauke Gerlach. Die Veränderungen spiegeln sich Jahr für Jahr im Preis wider. Der Online Award hat dabei stets ein feines Gespür bewiesen: "Die unabhängigen Gremien erkannten frühzeitig die Bedeutung von Bewegtbild im Netz, die Potenziale von Twitter oder die Wirkmacht der Netzgemeinde", so Gerlach und weiter: "Sein auf der Grimme-Tradition beruhendes Wertegerüst gilt heute, wie auch künftig. Dieses ist zwar dem gesellschaftlichen und technischem Wandel unterworfen, im Kern geht es aber darum, unsere freiheitliche und weltoffene Demokratie zu stärken - auch im Netz!"
Und wer konnte sich diesmal "am Ende" durchsetzen? Zum Beispiel herausragende wissenschaftsjournalistische Angebote, wie der Podcast "Das Coronavirus-Update" vom NDR in der Kategorie Information. Inhaltlich ist er nicht nur nah an der Wissenschaft, die der Virologe Christian Drosten uns Pandemiebetroffenen immer wieder geduldig erklärt – und ganz nebenbei Begriffe wie „Herdenimmunität, Reproduktionszahl und Saisonalität“ erläutert, so die Jury -, er ist auch nah am Menschen.
Das gilt ebenfalls für die Online-Reportage "Die Spende" der Zeitschrift Stern, die in der Kategorie Wissen und Bildung ausgezeichnet wurde. Sie zeigt, wie „eine zeitgemäße, sowohl visuell wie textlich anspruchsvolle, journalistische Darstellung des heiklen Themas Organspende gelingen kann – nah dran, aber ohne unnötigen Voyeurismus“, so die Jury in ihrem Statement.
Kein Wissenschaftsjournalismus, aber doch wissenschaftsgetrieben sind diesmal drei Projekte, die im Netz Archiv- oder Erinnerungsräume entfalten und hierfür eine der begehrten Auszeichnungen erhielten: Das gilt insbesondere für das "RomArchive" in der Kategorie Wissen und Bildung, welches in zehn thematisch unterteilten Bereichen die Künste und Kulturen der Sinti und Roma sichtbar macht, während die vielfältige Webdoku „Eigensinn im Bruderland“ die selten erzählte Geschichte der Migrant*innen in der DDR nachzeichnet – ausgezeichnet in derselben Kategorie und passend zu 30 Jahren Mauerfall. Nicht mit dem Mauerfall, aber doch auch mit einer für Deutschland historischen Thematik beschäftigt sich "NSU-Watch". Im Mittelpunkt steht der Prozess um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Auch nach Prozessende wird hier weiter gearbeitet, basierend auf einer Community von zahlreichen Mitakteur*innen. Dies erscheint wichtiger denn je - in Zeiten des anhaltenden rechten Terrors, in diesem Jahr prämiert in der Kategorie Information. Hier "werden Ausdauer und Hartnäckigkeit belohnt, denn was wäre das Netz ohne die Möglichkeit, es als frei zugängliches Archiv zu nutzen oder in Form von Watchblogs Entwicklungen beobachten zu können?", so die Jury.
Ja, was wäre das Netz? Vielleicht ein Raum für neue Bewegtbild-Formate jenseits des etablierten und vielfach durchformatierten Linear-TV? Zumindest die drei Preisträger aus dem Webvideobereich, die vor allem junge Zielgruppen adressieren, nähren diese Hoffnung. YouTuber Rezo gewinnt in der Kategorie Spezial. Er hat mit der "Zerstörung der CDU" nicht nur eine Volkspartei verwirrt, sondern auch eine enorme Reichweite erzielt. Aber, so die Jury, die Bedeutung seines Webvideos ist noch umfassender: "Rezo hat damit einer breiten Öffentlichkeit vorgeführt, dass die Videoplattform nicht nur für Schminktipps und Gamerezensionen taugt, sondern auch politisch-publizistisch für Furore und Gesprächsthemen sorgen kann – und das unterfüttert mit Fakten." Um investigativ recherchierte Fakten dreht sich auch das Bewegtbildformat „STRG_F“, ausgezeichnet in der Kategorie Information. Es entstammt dem öffentlich-rechtlichen Netzwerk funk, das ebenfalls den "Karakaya Talk" verantwortet. Der Webtalk ist diesmal das einzige prämierte Format in der Kategorie Kultur und Unterhaltung - ursprünglich in der Kategorie Information nominiert, aber von der Jury verschoben. Denn: Selten kam Information unterhaltsamer und "leichtfüßiger" daher, so die Jury.
Aus dem Bereich Information kommt auch "Das Coronavirus-Update", welches, so sagt es schon die Jury in ihrer Begründung, ganz neue Hörergruppen für das Medium Podcast erschlossen hat. Diese sind dann gleich beim Publikumsvoting aktiv geworden. "Das Coronavirus-Update" gewinnt mit großem Abstand vor "Dinge erklärt – kurzgesagt" und "Die Zerstörung der CDU".