Eine gewisse Tendenz ist unverkennbar: Auf der Suche nach den „guten“ Seiten im Netz, der hochwertigen Onlinepublizistik tendieren die Preisentscheidungen beim Grimme Online Award inhaltlich zu Angeboten von großer Ernsthaftigkeit, was aber Leichtes und Unterhaltsames nicht ausschließt. In dieser Hinsicht war der #GOA21 – so das Hashtag in diesem Jahr – typisch oder wie es die Jury in ihrem Statement erklärt: „Es war ein ernstes Jahr – was mit Blick auf die Inhalte für die Nominierungen und die Preisträger gleichermaßen gilt. Das ergibt sich aber aus anderen Gründen als den offensichtlichen, denn unter den Preisträgern findet sich kein Angebot, das Corona zum Thema macht.“
Diese Ernsthaftigkeit prägte auch den Grundton des Abends, moderiert von Ninia LaGrande und musikalisch begleitet von der Indiepop-Band Fortuna Ehrenfeld. Selbst die eingeladenen, prominenten Laudator*innen ließen ihn bei der Preisverleihung des 21. Grimme Online Award immer wieder durchscheinen: Und das, obwohl zunächst Comedian Markus Barth über seinen Gute-Nachrichten-Podcast "Erzähl mir was Gutes" berichtete und Moderatorin Nazan Eckes positive Vibes einforderte, die die Gesellschaft jetzt unbedingt brauche. Und Satiriker Schlecky Silberstein erläuterte – hoffentlich nicht ganz ernst gemeint – warum das Internet jetzt endlich wegmuss, während die Kolumnistin Samira El Ouassil mangelnde Diversität in „den Medien“ beklagte und der Influencer Riccardo Simonetti über seine Tätigkeit als LGBTI-Sonderbotschafter des Europäischen Parlaments sprach - der Grundton war und blieb: ernst. Trotzdem entfaltete sich eine festliche Stimmung unter den zugeschalteten Nominierten, weil diese erst während der Preisverleihung - live und per Zoom – über die Entscheidungen erfuhren, Webcam-Jubel inklusive.
„Institutionalisierte Formen der Anerkennung sind so wichtig“, erklärte Grimme-Direktorin Dr. Frauke Gerlach, denn sie machen publizistisch wertvolle Netzinhalte sichtbar. Dies bietet Orientierung für die Nutzer*innen und unterstützt all diejenigen, die sich um Qualitätsinhalte verdient machen. Und die brauchen wir alle! Wobei sich eine Generationenschere auftue, etwa im Hinblick auf öffentlich-rechtliche Inhalte im Netz, so Gerlach: „Während die Älteren noch große Vorbehalte hinsichtlich Facebook, YouTube und Co. haben, auch wegen datenschutzrechtlicher Bedenken, sind Jüngere überzeugt: Mit Blick auf Qualität und Vielfalt sollten die Öffentlich-Rechtlichen dort unbedingt präsent sein – auch in diesem Kontext lohnt sich die genauere Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen, die im Kontext von #meinfernsehen2021“ gewonnen wurden.
Und wer konnte sich über eine „institutionalisierte Form der Anerkennung“ freuen? Es waren vor allem Angebote, die betroffenen und marginalisierten Gruppierungen eine Stimme gaben und geben, mit ihnen statt über sie sprechen und für eine vielfältige und offene Gesellschaft einstehen. Diesem Ansatz folgten gleich mehrere Online-Angebote, die in unterschiedlichen Kategorien mit einem Grimme Online Award ausgezeichnet wurden: In intensiven und eindrücklichen Gesprächen mit Hinterbliebenen werden etwa im Spotify Podcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“ das rechtsextreme Attentat und seine Folgen aufgearbeitet, während die Webdokumentation „Gegen uns.“ Betroffene rassistischer oder rechter Übergriffe in berührender Weise zu Wort kommen lässt.
Um das angemessene „zu Wort kommen lassen“ drehte sich auch die Reaktion der Comedienne Enissa Amani auf die misslungene Ausgabe des TV-Formats „Die letzte Instanz“, sie präsentierte statt dessen auf YouTube die Talkrunde „Die beste Instanz“ – einschließlich passender Expert*innen - und wurde dafür ausgezeichnet, denn, so die Jury, hier werde „das Netz in seinem Ansinnen, Gegenöffentlichkeiten zu ermöglichen und Plattformen fernab traditioneller Medien zu nutzen, in herausragender Weise eingesetzt.“ Das kann auch für den Podcast „Queerkram“ gelten – getragen vom „Nollendorfblogger“ Johannes Kram, der immer wieder Einsichten in queere Lebenswirklichkeiten eröffnet und vielfältige Lebensentwürfe damit verteidigt. Denn, wie die Jury herausstellt, unser gesellschaftliches Miteinander wird nicht allein von pandemischen Entwicklungen bedroht: „Es gibt ein Leben jenseits von Corona, aber es ist (weiterhin) in Gefahr.“
Und wer bei der Auseinandersetzung mit diesen, vielfach antidemokratischen Gefahren in die deutsche Geschichte eintauchen will, dem sei die Webseite "#StolenMemory" der Arolsen Archives empfohlen. Sie setzt sich mit der Rückgabe von den Nazis geraubten Gegenständen damals Inhaftierter auseinander – und kann vor allem auch in der Form überzeugend, begleitet durch Filme im Stil von Graphic Novels. Die Gestaltung steht auch im Fokus der "dekoder Specials", für die ein Team aus Wissenschaftler*innen, Designer*innen und Journalist*innen für jeden einzelnen Beitrag über Russland, die Ukraine oder Belarus von Anfang an zusammenarbeitet und in der gestalterischen Umsetzung begleitet hat – mit Erfolg, wie die Jury erklärt: „Diese Formate-Spielwiese an der Schnittstelle von (Daten-)Journalismus und Wissenschaft zeigt uns auch, wie Online-Publizistik aussehen sollte – und was wir an vielen Stellen im Netz in dieser Form vermissen.“
Und jenseits von Schwere und inhaltlicher Ernsthaftigkeit? Durch Unterhaltsamkeit und besondere Authentizität besticht das YouTube Format „Dulsberg Late Night“ bei dem Schulleiter Björn Lengwenus während des Lockdowns für und mit seinen Schüler*innen allabendlich ein YouTube-Format gestaltet hat, welches auf kreative Weise ein schulisches Gemeinschaftsgefühl in Zeiten der pandemiebedingten Isolation erzeugte. Die Zeit des Lockdowns hat auch Niklas Kolorz genutzt, um auf seinem TikTok-Kanal Wissensvermittlung zu betreiben. In gerade einmal einer Minute gelingt es ihm, Themen aus Astronomie, Genetik oder Physik zu vermitteln: "Er schafft es, Wissenschaft in verständliche, aber nie vereinfachende Häppchen zu verpacken", so die Jury.
Ähnlich sieht es wohl das Publikum, das er auch begeistern konnte: Am Ende des Abends erhielt er Niklas Kolorz auch noch den Publikumspreis für seinen TikTok-Kanal. Ein Abend, der allen Beteiligten einiges abverlangt und viele glücklich gemacht hat, ein Fest für Qualität im Netz und gesellschaftlichen Anspruch.