Das Statement der Jury des Grimme Online Award ist stets ein Resümee der Zeitspanne zwischen zwei Preisverleihungen. Es reflektiert die Entwicklung der Netz-Publizistik der vergangenen zwölf Monate. 2021 stellt die Jury fest: Es war ein ernstes Jahr – was mit Blick auf die Inhalte für die Nominierungen und die Preisträger gleichermaßen gilt.
Das ergibt sich aber aus anderen Gründen als den offensichtlichen, denn unter den Preisträgern findet sich kein Angebot, das Corona zum Thema macht. Die intensive Auseinandersetzung mit andauernden gesellschaftlichen Konflikten wie dem alltäglichen Fremdenhass und furchtbaren Ereignissen wie den rassistisch motivierten Morden in Hanau spiegelt sich in den prämierten Angeboten „Gegen uns“ und „190220 – Ein Jahr nach Hanau“ wider. In intensiven Gesprächen, Reportage-Elementen und Porträts rücken nicht Taten und Täter in den Mittelpunkt, sondern vielmehr die direkt Betroffenen und die nachhaltigen Auswirkungen auf ihre Hinterbliebenen, Angehörigen oder ihr Umfeld. Gerade das erachtet die Jury als preiswürdig: Den Opfern eine Stimme zu geben, in zeitgemäßen Online-Formaten, mit dem klaren Fingerzeig, dass nicht allein die Pandemie unser gesellschaftliches Miteinander bedroht: Es gibt ein Leben jenseits von Corona, aber es ist (weiterhin) in Gefahr.
„Am Anfang war das Wort und das Wort war Podcast...“: Auffällig war in diesem Jahr die Zahl an eingereichten und nominierten Podcasts. Hier zollt die Jury der Nominierungskommission großen Respekt: Die „Sichtung“ zahlreicher Einreichungen mit jeweils vielen Episoden ist ein erheblicher Arbeitsaufwand. Denn um den Angeboten gerecht zu werden und preisverdächtige Podcasts herauszufiltern, reicht ein kurzes Reinhören nicht aus. Ein großer Dank geht also an die Kolleg*innen. Gleichwohl sollten die Verantwortlichen des Grimme Online Award darüber nachdenken, wie in Zukunft mit Podcasts umzugehen ist und wie sie in die Systematik der Netz-Publizistik eingeordnet werden sollten. Nicht nur, um das Arbeitspensum der Nominierungskommission in gesundem Maß zu halten. Sondern auch, um eine Abgrenzung etwa zu reinen Podcast- und Hörfunkpreisen zu gewährleisten.
Dass der Award stets aktuelle Entwicklungslinien der Netz-Publizistik herausarbeitet und sich dabei allen Formaten widmet, lässt sich an den Preisträgern „Niklas Kolorz auf TikTok“ und „dekoder Specials“ erkennen. Kolorz betreibt Wissensvermittlung auf sehr persönliche, einprägsame Art – auf einem Kanal, der das ganz große, zumal generationenübergreifende Publikum noch sucht. Die Reportagen und Themen-Specials bei „dekoder“ bringen uns nicht nur die Gegenwart in Russland und Belarus näher – diese Formate-Spielwiese an der Schnittstelle von (Daten-)Journalismus und Wissenschaft zeigt uns auch, wie Online-Publizistik aussehen sollte – und was wir an vielen Stellen im Netz in dieser Form vermissen.
Mit „Dulsberg Late Night“ zeigt ein weiterer Preisträger, dass der Grimme Online Award traditionell die individuellen, „kleinen“ Angebote im Netz sehr wohl im Blick hat. Was dieses YouTube-Angebot zu einer Preziose macht, ist nicht nur die Tatsache, dass eine Schule ein Online-Format gewählt hat, um in Zeiten der Kontaktbeschränkungen das Zusammengehörigkeitsgefühl digital zu fördern. Es beeindruckt auch die Professionalität der Produktion und des Teilzeit-Moderators, der nebenbei ja noch eine Schule leitet. Ein You-Tuber der anderen Art, der uns zeigt, dass das Netz eine Bühne für alle bietet, die sie zu nutzen wissen. Und uns als Nutzer*innen Einblicke in Bereiche des Lebens – ob örtlich oder inhaltlich – ermöglicht, die sich sonst nicht ergeben. Ähnlich sieht es bei „Queerkram“ aus: Preisträger Johannes Kram sorgt mit seinem Podcast für die Sichtbarkeit queerer Lebenswirklichkeiten und macht in seinen Gesprächen auf die Situation von LGBTI*in unserer Gesellschaft aufmerksam. Und bringt sie damit denjenigen näher, die sich nicht täglich intensiv mit dem Thema auseinandersetzen.
Dass man nicht allein über gesellschaftliche Gruppen sprechen sollte, sondern besser mit ihnen, ist eine der Prämissen, die zum Angebot „Die beste Instanz“ geführt haben. Der auf ganzer Linie gescheiterte Versuch des TV-Formats „Die letzte Instanz“, das Thema Rassismus zu diskutieren, animierte Enissa Amani zu ihrer auf YouTube präsentierten Diskussionsrunde. Hier wird das Netz in seinem Ansinnen, Gegenöffentlichkeiten zu ermöglichen und Plattformen fernab traditioneller Medien zu nutzen, in herausragender Weise eingesetzt. Die Kommentare zum Video ermöglichen eine weitere Diskursschleife. Und der „shareable content“ lässt sich zudem in andere digitale Resonanzräume heben. Das Internet als sozialer Ort und Erweiterung linearer Formate – das ist zeitgemäße und preiswürdige Netz-Publizistik.
Auch „#StolenMemory“ eröffnet uns eine weitere Facette zur Nutzung des Netzes. Das digital kuratierte Projekt zeigt uns, dass das Netz als Ort des Erinnerns dem Vergessen entgegenwirken kann. Es werden nicht nur die Schicksale von Opfern des Nationalsozialismus eindrücklich vermittelt. Das Scrollytelling- Format verknüpft sich mit einer wissenschaftlichen Datenbank, in der mit den Opfern verbundene Gegenstände im Detail erschlossen werden. So gelingt es, abstrakte Geschichte über konkrete Geschichten zu erzählen – und die Nutzer*innen zu berühren.
Die Jury hat aufgrund der Nominierungen die Chance nutzen können, die Vielfalt des Netzes abzubilden und auszuzeichnen. Gerne hätte die Jury auch das Thema Barrierefreiheit hervorgehoben, denn die Wichtigkeit von Leichter Sprache oder barrierearmem Webdesign war stetiger Bestandteil der Diskussion. Das hier mit einer lobenden Erwähnung zu bedenkende Angebot „Corona Leichte Sprache“ zeigt auf, wohin die Inklusion von Zielgruppen im Netz künftig gehen sollte.
Daher fordert die Jury für die Zukunft potenzielle Einreichende auf: Lasst Euch etwas einfallen, probiert und produziert entlang der Formate-Vielfalt – wir nehmen es wahr und ordnen es ein. Und sind gespannt, was kommt.